Wenn Intendant Michael Schulz am Ende der Spielzeit nach 16 Jahren ans saarländische Staatstheater wechseln wird, kann das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier auf eine Ära zurückblicken, die im Bereich der modernen bzw. zeitgenössischen Oper wesentlich stärkere Akzente gesetzt hat als die vielen benachbarten Häuser an Rhein und Ruhr. Und zwar nicht mit dem Ehrgeiz, mit Uraufführungen mehr Journalisten als heimische Besucher anzulocken, sondern mit der klugen Strategie, besonders herausragende Werke weiter zu „verwerten“ und in exzellenten Produktionen letztlich nicht weniger überregionales Interesse zu wecken.
Aufführungen von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“ oder Aribert Reimanns Oper „Bernarda Albas Haus“ werden ebenso in Erinnerung bleiben wie jetzt die Deutsche Erstaufführung des Psychodramas „Innocence“ (Unschuld) der erfolgreichen und im letzten Jahr verstorbenen finnischen Komponistin Kaija Saariaho. Trotz der Bekanntheit der Komponistin und der Librettistin Sofi Oksanen, deren Bestseller „Fegefeuer“ in 38 Sprachen übersetzt wurde, war das Interesse der großen deutschen Bühnen an der neuen Oper bis zur triumphalen Uraufführung vor drei Jahren in Aix-en-Provence gering. Da hatte Michael Schulz schon die Qualitäten des Stücks erkannt und sich rechtzeitig die Rechte für die Deutsche Erstaufführung sichern können. Und die hinterließ jetzt im Großen Haus des „MiR“ denkbar starke Eindrücke.
Angekündigt wird das Werk als „Opern-Thriller“. Ein Etikett, das nicht zutrifft und das die Oper gar nicht nötig hat. Dafür ist sie psychologisch und musikalisch zu feinfühlig und filigran angelegt. Die Handlung kreist um den fiktiven Amoklauf eines Schülers in Finnland, dem zehn Schülerinnen und Schüler sowie eine Lehrerin zum Opfer fallen. Zehn Jahre später will der Bruder des Täters eine Rumänin heiraten, die von den familiären Zusammenhängen nichts weiß. Zufällig wird die Mutter eines der Opfer als Kellnerin eingesetzt, die die Tragödie nicht verkraften kann und die Hochzeitsgesellschaft mit den Erlebnissen konfrontiert.
Was folgt, ist jedoch kein plakativer Rachefeldzug der Mutter. Die Eltern des Täters, schattenhaft auftretende Opfer und traumatisch zerstörte Überlebende und nicht zuletzt der Bräutigam geben erschütternde Einblicke in ihre Erinnerungen an das Geschehen. Dabei kommen die Schmerzen der Betroffenen ebenso zum Ausdruck wie krampfhafte Verdrängungsversuche. Äußerst sensibel strickt die Librettistin ein Netz, in dem allmählich die Grenzen zwischen dem unsichtbar bleibenden Täter und den Opfern verwischen. Die Lehrerin hat Warnzeichen übersehen, die Schüler den Täter brutal gemobbt, der Bruder und einige Schüler wussten von den destruktiven Plänen des sich immer stärker radikalisierenden und verzweifelnden Täters und schwiegen und der Vater hat den Zugang zu seinem Waffenschrank ermöglicht. Ein Libretto, das haarscharf an der Grenze vorbeischrammt, Verständnis für die schreckliche Tat und ihren Täter aufzubringen.
Die Hochzeitsfeier kann man natürlich vergessen. Ebenso schwer vorstellbar ist ein Ende, das der psychischen Komplexität des Geschehens gerecht werden kann. Der schlichte Satz „Mama, lass mich los“ der getöteten Tochter der Kellnerin löst den Knoten, indem ohne sentimentalen Gefühlsplüsch jeder aufgerufen wird, sich mit seinem nicht mehr zu änderndem Schicksal zu versöhnen. Die tote Tochter Maréta, die durch die Verzweiflung der Mutter bis jetzt keine Ruhe finden konnte, die Mutter, die sich selbst und das Glück des Brautpaars zerstört sowie der Bruder und Vater, die, wie auch einige der Mitschüler, ihre Mitschuld annehmen müssen.
Übrigens hinterließen die sanften Auftritte der Tochter auch vor dem Finale besonders berührende Eindrücke. Mit der jungen Erika Hammarberg wurde eine finnische Folksängerin engagiert, die mit schlichter, glasklarer Stimme und spezifisch nordischen Stimmtechniken der Rolle ein glaubhaftes und zerbrechlich feines Profil verleiht. Neben ihren Auftritten sind die Konfrontationen von Markétas Mutter mit der Braut und der Mutter der Brüder besonders herauszuheben. Wie alle Partien des Werks sind auch diese mit Hanna Dóra Sturludóttir (Mutter), Margot Genet (Braut) und Katherine Allen (Schwiegermutter) glänzend besetzt.
Der Regisseurin Elisabeth Stöppler gelingt es eindringlich, ohne plakative Übertreibungen die Seelenqualen der Figuren mit fein ausgearbeiteten Charakter-Profilen zum Ausdruck zu bringen. Zu sehen ist ein filigranes Mosaikspiel der Personenführung, das die Regisseurin meisterhaft beherrscht.
Für das Bühnenbild hätten sich die Librettistin und die Komponistin von Leonardo da Vincis Gemälde „Das letzte Abendmahl“ inspirieren lassen, bemerkt der Co-Librettist Aleksi Barrière. Ein Bild, auf dem angesichts des bevorstehenden Verrats die Jünger in heftige seelische Irritationen stürzen. Davon ist in der schlichten, aber klaren Konstruktion der Bühnenbildnerin Ines Nadler erst im Schlussbild etwas zu spüren, das von einem überdimensionalen Schriftzug des Stücktitels „Innocence“ überstrahlt wird. Ansonsten ermöglicht die zweigeschossige Separierung des Bühnenraums das simultane Spiel auf verschiedenen Handlungsebenen und lässt den Darstellern viel Platz.
Und wie ist es um die Musik bestellt? Die Partitur schillert in 1000 Farben, nervös und dunkel bebend, in lichten Tönen überirdisch entschwebend, dramatisch zupackend und zerbrechlich zart. Kaija Saariaho fand für jede seelische Nuance, für jede Aktion den richtigen Ton. Wobei die reiche Klangfarbenpalette des Orchesters durch einen im Hintergrund meist ätherisch schwebend die Namen der Opfer säuselnden Chor erweitert wird, wofür mit den Sängerinnen und Sängern des Chorwerks Ruhr ideale Interpreten zur Verfügung standen.
Auch die Neue Philharmonie Westfalen leistete Hervorragendes, mit hörbarer Hingabe von Valtteri Rauhalammi geleitet, der mit der Musik seiner Landsmännin bestens vertraut ist. Und mit der vorzüglichen Besetzung jeder Rolle bewies das Musiktheater im Revier erneut ein glückliches Händchen. Zu nennen sind hier noch Khanyiso Gwenxane als Bräutigam, Benedict Nelson als Vater, Bele Kumberger als Schülerin Lilly und Anke Sieloff als Lehrerin.
Sehr lang anhaltender Beifall für einen bewegenden Opernabend.
Pedro Obiera, 30. September 2024
Innocence
Kaija Saariaho
Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen
Besuchte Premiere: 28. Oktober 2024
Regie: Elisabeth Stöppler
Dirigat: Valtteri Ruahalammi
Neue Philharmonie Westphalen
Die nächsten Aufführungen im Musiktheater im Revier: am 5. und 27. Oktober, am 10. November und 1. Dezember