Gelsenkirchen: „Innocence“, Kaija Saariaho (zweite Besprechung)

Trailer

Mit der deutschen Erstaufführung der Oper Innocence von Kaija Saariaho ist dem Gelsenkirchener Intendanten Michael Schulz ein echter Coup gelungen, denn die im Sommer 2023 verstorbene Komponistin zählte zu den großen Künstlerinnen unserer Zeit. Innocence war bisher nur in der Uraufführungsinszenierung von Simon Stone zu stehen, und erlebt in Gelsenkirchen somit ihre zweite szenische Umsetzung durch Elisabeth Stöppler, die, wie das Programmheft verrät, eine Koproduktion mit der Oper Leipzig ist.

Für eine zeitgenössische Oper ist es ungewöhnlich, dass es sich keine Literaturoper handelt, sondern die finnische Autorin Sofi Oksanen verfasste ein Originallibretto, das dann von Aleksei Barriere, dem Sohn der Komponistin, in ein mehrsprachiges Textbuch in neun Sprachen übertragen wurde. Da hier eine echte Krimigeschichte erzählt wird, deren Zusammenhänge höchst spannend und Stück für Stück enthüllt werden, soll hier nicht zu viel über den Inhalt verraten werden. Ausgangspunkt sind zwei Veranstaltungen: Eine Hochzeitsfeier und das Treffen von Überlebenden eines Amoklaufs, der vor zehn Jahren stattgefunden hat.

© Karl und Monika Forster

Die Librettisten haben eine wirklich meisterliche Textvorlage geschaffen, die von Kaija Saariaho großartig in Musik umgesetzt wird. Auch wenn das Stück so gut ist, dass es auch als Schauspiel Erfolg haben dürfte, erlebt man hier eine packende Oper, in der die Musik dem Stück eine starke emotionale Ebene gibt: Charaktere und Atmosphären werden perfekt gezeichnet. Klangliches Fundament des ganzen Werkes sind Klavier- und Schlagwerkklänge, zu denen sich dann Streicher und Bläser, oft virtuos-solistisch gesellen. Saariahos Musik ist farbenreich und dramatisch, aber nicht so opulent und schwelgerisch wie ihre L´amour de loin, die 2021 in Köln zu sehen war.

Ungewöhnlich ist der Einsatz des Chores, der sehr instrumental eingesetzt wird und das Orchester um die menschliche Stimme als Farbe erweitert. Das von Sebastian Breuning einstudiert Chorwerk Ruhr singt seine Partie meisterlich von der Hinterbühne. Dirigent Valtteri Rauhalammi, der als Gast von der Staatsoper Hannover am Pult steht, aber von 2012 bis 2017 in Gelsenkirchen gearbeitet hat, lässt Saariahos Musik geschmeidig und elegant strömen.

Regisseurin Elisabeth Stöppler bringt die Geschichte mit glaubhaften Charakteren sehr lebendig und einfühlsam auf die Bühne. Alle Charaktere werden mit ihren Nöten und Problemen ernst genommen. Zusätzliche Struktur bekommt das Geschehen durch den zweistöckigen Bühnenraum von Ines Nadler: Im oberen Stockwerk finden meist die Hochzeitsszenen statt, unten das Treffen der Überlebenden. Ein Stuhl in einem Neonröhrenrahmen auf der rechten Seite ist meist Ort von Zeugenaussagen.  

Mit dieser Inszenierung dürfte Regisseurin Elisabeth Stöppler zu einer heißen Kandidatin für die Nachfolge von Michael Schulz auf dem Posten des Gelsenkirchener Intendanten aufgestiegen sein. Sie kennt das Haus bestens, hat hier schon einen dreiteiligen Britten-Zyklus sowie Massenet Don Quichotte, Dvoraks Rusalka und Bellinis Norma inszeniert.

Dieses Stück ist eine echte Ensembleoper, in der alle Figuren ungefähr gleich viel Raum für ihre Geschichte gegeben wird. Jedoch leistet sich das Musiktheater im Revier bei dieser Oper den Luxus zweier Gäste Die islandische Mezzospranistin Hanna Dóra Sturludóttir gestaltet ein intensives Porträt der Kellnerin Tereza. Die finnische Folksängerin Erika Hammaberg singt einfühlsam die Schülerin Marketa.

© Karl und Monika Forster

Margot Genet gibt die Braut Patricia mit selbstbewussten Sopran. Katherine Allen als ihre Schwiegermutter Patricia bewegt sich zwischen dramatischen Anflügen und glockigen Sopranklängen. Mit bulligem Bariton verkörpert Benedict Nelson ihren Mann Henrik.

Peinlich ist aber, dass der südafrikanische Tenor Khanyiso Gwenxane, der den Bräutigam Tuomas mit wendigem Tenor singt, aufgrund seiner Hautfarbe im Programmheft und Einführungsvortrag nur als Adoptivsohn seiner Eltern aufgeführt wird. In der Fiktion einer Opernaufführung darf die Hautfarbe der Akteure keine Rolle spielen, wenn es um Verwandtschaftsbeziehungen geht. – Dieser Aspekt ist jedoch der einzige Wermutstropfen des Abends.

Die Premiere ist sehr gut besucht, was darauf schließen lässt, dass man hervorragendes Marketing betrieben hat. Man kann nur hoffen, dass sich die Qualität dieser neuen Oper und ihrer Aufführung herumspricht und viele Besucher anlockt. Das Premierenpublikum war begeistert.

Rudolf Hermes, 2. Oktober 2024

Hier geht es zur ersten Kritik.


Innocence
Kaija Saariaho

Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Deutsche Erstaufführung: 28. September 2024

Inszenierung: Elisabeth Stöppler
Musikalische Leitung: Valtteri Rauhalammi
Neue Philharmonie Westfalen