Barcelona: „Tosca“, Giacomo Puccini

Auswirkung unbegrenzter Macht in Namen der Gottesfurcht

In einer Koproduktion mit dem Théâtre Royal de la Monnaie, dem Teatro de la Maestranza y Salas del Arsenal Sevilla und dem Opéra Orchestre National Montpellier brachte das ehrwürdige und prachtvolle Gran Teatre del Liceu Barcelona im Januar eine Serie von 15 (!) „Tosca“-Aufführungen heraus, die mit den 2.286 Sitzplätzen – und damit wesentlich mehr als die Wiener Staatsoper – fast alle so gut wie ausverkauft waren, und das bei ständig wechselnden, durchwegs prominenten Besetzungen (Maria Agresta, Emily Magee, Monica Zanettin und Sondra Radvanovsky als Tosca; Michael Fabiano, Vittorio Grigolo und Antonio Corianò als Cavaradossi und Željko Lučić sowie George Gagnidze als Scarpia).

Der Spanier Rafael R. Villalobos zeichnete für Regie und Kostüme verantwortlich, interessanterweise aber nicht für das Bühnenbild, welches Emmanuele Sinisi gestaltete. Hinzu kamen für das gewählte, recht „spezielle“ Regiekonzept in der intensive Stimmungen verstärkenden Lichtregie von Felipe Ramos noch großflächige Malereien von Santiago Ydáñez. Sinisi konstruierte eine schneeweiße Rotunde mit großen romanischen Bögen in den Außenmauern, partiell auch noch in Metallkonstruktionen angedeutet. Im 1. Akt stehen oben Apostelfiguren wie auf den Kolonnaden um den Petersplatz in Rom, im 2. Akt sind sie weg, und die großen Gemälde beherrschen das Innere der nun zum Palazzo Farnese mutierten Rotunde mit dem Riesentisch Scarpias‘. Im 3. Akt gleicht die Rotunde, wenn man von der Farbgebung absieht, schließlich der Engelsburg. Sie dreht sich dramaturgisch immer nachvollziehbar, nie zu oft, während eine Drehbühne in ihrem Innenraum, die sich in die Gegenrichtung dreht, die Akteure oft kontrapunktisch zueinander positioniert. Das war immer wieder sehr effektvoll und auch tiefgründig.

Zeljko Lučič mit Sciarrone und Spoletta, und dem Messner ganz rechts / © Toni Bofill

Wenn man das Regiekonzept von Villalobos betrachtet, wird schnell klar, warum er nicht auch noch das Bühnenbild schaffen wollte, welches über alle drei Akte mit der weißen Rotunde einen doch etwas neutralen Rahmen für das darin stattfindende, in der Tat unter jede Haut gehende Geschehen, bildet. Denn dem Regisseur geht es darum zu zeigen, wie die totale Macht durch die Kirche, hier insbesondere des Vatikans, und die staatliche Macht in der Person Scarpias mit dem Joch der Angst regiert und unter all den Ängsten eine hervorsticht, die über der europäischen Moral schwebte und dem Willen des Vatikans und seinen politischen Interessen unterworfen ist: die Gottesfurcht. Dieser macht sich Scarpia habhaft, wenn er Tosca in der Kirche Sant’Andrea del Valle bei ihrem Wutausbruch im 1. Akt mit „En chiesa?“ zurecht weist. Die Wirkung ist so stark, dass er Toscas Hand ergreifen kann und sie ihn einen Augenblick lang zärtlich berührt…

Wahrlich eindrucksvoll lässt Villalobos Scarpia seine staatliche Macht aus der Gottesfurcht ableiten, die er im 2. Akt beim Versuch der Vergewaltigung Toscas mit allen Mitteln auf die Spitze treibt. Hier inszeniert Regisseur Scarpia tatsächlich den von Cavaradossi als „bigotten Satyr“ charakterisierten Polizeichef von Rom: „Scarpia? Bigotto satiro che affina colle devote pratiche la foia liber tina e strumento al lascivo talento fa il confessore e il boia!” Und Scarpia treibt es hier offenbar mit nackten Jünglingen, die angstvoll in den Seitengängen der Rotunde herumschleichen, oder sogar auf dem Tisch drapiert werden. Dazu sieht man die übergroßen Gemälde von Santiago Ydáñez nackter Frauen und Männer in den Bögen und, als es zum Mord an Scarpia gekommen ist, nach einer Reihe von Jagdhunden mit fletschenden Zähnen auch noch ein Chiffre von Caravaggios Gemälde von Judith und Holofernes, den sie ermordet, bevor es zu der von ihm gewünschten Liebesnacht mit ihr gekommen ist.

Die Tortur des Cavaradossi auf offener Szene / © Toni Bofill

In der Inszenierung von Villalobos legt Scarpia nach dem „È bene?“ das Ketten- und Hals-Geschirr für eine Domina-Nummer an. Es wird also kaum etwas ausgelassen an sexueller Perversion. Selten gewann Toscas Ausspruch nach seiner Ermordung E avanti a lui tremava tutta Roma! eine solch intensive Bedeutung. Dazu ist auch die Tortur Cavaradossis auf offener Szene am Tisch Scarpias bis zur Bewusstlosigkeit zu erwähnen, bis er nach dem „Vittoria“ gewaltsam und blutüberströmt abgeführt wird.

Hauptfigur ist für Villalobos aber Tosca, die eine spirituelle Reise vollzieht, in drei unterschiedliche Akte übersetzt, die die drei mentalen Zustände widerspiegeln, die sie durchläuft: von einem fast klischeehaften Realismus des ersten Akts geht man über zum Schockzustand des zweiten und eilt zur posttraumatischen Entfremdung des dritten, in dem Tosca und Mario völlig parallele Realitäten über einem offensichtlich unheilbaren Ende leben. Das ist an der Mimik Cavaradossis eindrucksvoll zu erkennen. Er glaubt an keine Rettung mehr. Die Despotie der Macht hat alles zerstört. Dazu passen auch die Kostüme, die Villalobos Tosca gibt. Ihre emotionale Verirrung wird schon im Te Deum des 1. Akts deutlich, als sie in einem Papst-Gewand erscheint, mit Mitra, und auf dem Gewand Gebeine und einen Totenkopf präsentiert. Scarpia reißt ihr die Mitra mürrisch vom Kopf. Im 2. Akt kommt sie mit einem kardinalsroten Kostüm, ein Zeichen, dass sie schon ihr Selbst gegen die Macht der Kirche und der daraus abgeleiteten weltlichen Macht in der Person Scarpias verloren hat.

Vittorio Grigolo / © Toni Bofill

Immer wieder kommt aber die stumme Rolle Pier Paolo Pasolinis ins Spiel, der wie Cavaradossi als Staatsfeind galt und von den gleichen Machtstrukturen verfolgt wurde, die Sardou in seinem Drama zeigt – anderthalb Jahrhunderte später, eine Tatsache, die viel über die römische Gesellschaft aussagt – bis zu seiner Ermordung 1975, kurz vor der Premiere von „Salò oder die 120 Tage von Sodom“. So einleuchtend das im e-Programmheft klingen mag, es erschließt sich nicht in der Dramaturgie auf der Bühne. Und wenn eine fast fünfminütige Szene von Pasolini mit einem Freund und ganz anderer Musik aus dem Off bei völliger Verdunkelung des Grabens zu Beginn des 2. Akts kein Ende zu nehmen scheint, kommen Buhrufe und allerhand ablehnende Kommentare aus dem Publikum. Das kam gar nicht an, und – in der Tat – es passte auch nicht und war schlicht überinszeniert.

Ganz anders kam das exzellente Sängerensemble an. Vittorio Grigolo hatte einen ganz großen Abend und gab den Cavaradossi mit einem Höchstmaß an Emphatik und Ausdruckskraft. Sein charaktervoller und sowohl bei den Spitzentönen wie in der Mittellage bestens ansprechender Tenor mit stets passender und einnehmender Mimik zog das Publikum in den Bann, sodass er nach nicht enden wollendem Applaus „E lucevan le stelle“ wiederholen musste. Eine ganz große Leitung eines auch mit viel Italianità singenden Tenors. Zuvor schon hatte Sondra Radvanovsky ihr „Vissi d’arte, vissi d‘amore” wiederholen müssen, die nach einem stimmlich noch etwas kühlen 1. Akt im 2. zu großartiger Form auflief, als wäre sie von Grigolo mitgerissen worden. Schöne Phrasierung, große Wortdeutlichkeit, gute Piani und ebenfalls starke vokale Ausdruckskraft kennzeichnen ihren klangvollen Sopran bei ausdrucksvollem Spiel. Auch sie begeisterte das Publikum über alle Maßen. Zeljko Lučič, schon etwas in die Jahre gekommen, sang den Scarpia vor allem mit einem schönen baritonalen Timbre und guter Mimik, hätte aber darstellerischen etwas intensiver agieren können. Felipe Bou sah als Angelotti wie ein Ersatz-Jesus aus, machte seine kurze Sache aber vokal recht gut. Jonathan Lemalu ließ es hingegen als Messner an stimmlicher Kraft und Ausdruck fehlen. Er blieb blass. Manuel Esteve als Sciarrone und Moises Marín als Spoletta spielten fiese Folterknechte Scarpias und entsprachen den stimmlichen Erwartungen an diese Rollen, ebenso wie der Schließer Milan Perišić und Hugo Bolívar als Stimme des Hirten.

Sondra Radvanovsky / © Toni Bofill

Giacomo Sagripanti zeigte am Pult des Symphonischen Orchesters des Gran Teatre del Liceu seine große Kenntnis und Versatilität des Werkes von Puccini, sorgte für die bei der Intensität des Bühnengeschehens in dieser Produktion für die entsprechende musikalische Spannung und führte die Sänger auf äußerst einfühlsame Art und Weise. Der Dirigent sicherte dieser Ausführung große Homogenität zwischen dem Graben und dem Bühnengeschehen. So wirkte diese „Tosca“ wie aus einem Guss und wurde vom Publikum auch entsprechend bejubelt. Der von Pablo Assante einstudierte Chor trug mit kraftvollen Stimmen zum musikalischen Erfolg bei.

Klaus Billand, 1. Februar 2023


Giacomo Puccini: Tosca

Gran Teatre del Liceu, Barcelona

Besuchte Aufführung am 20. Januar 2023

Premiere am 4. Januar 2023

Inszenierung: Rafael R. Villalobos

Musikalische Leitung: Giacomo Sagripanti

Symphonisches Orchester des Gran Teatre del Liceu