Gerade erst aus Maribor zurück, nur kurz zu Hause, dann schon wieder im Training: Der Terminkalender von Iana Salenko lässt kaum Pausen zu. Trotzdem nimmt sich die Berliner Kammertänzerin kurz vor ihrem Auftritt als Odette/Odile Zeit für ein Gespräch. Mit der Bühnenprobe vor ihren beiden gefeierten Auftritten in Slowenien ist es heute bereits der vierte Abend in Folge, an dem sie diese Paraderolle verkörpert.

Schwanensee mit psychologischem Tiefgang
Patrice Barts Inszenierung am Staatsballett Berlin zeichnet sich durch eine psychologisch vertiefte Interpretation der Charaktere aus. Besonders bemerkenswert ist die Darstellung der Königin, Siegfrieds Mutter, die als manipulative Figur dargestellt wird, welche die Geschicke ihres Sohnes lenkt und ihn bewusst in den Untergang treibt. Diese Interpretation verleiht der Handlung eine zusätzliche emotionale Tiefe und unterscheidet sich von traditionellen Aufführungen.Darüber hinaus hat Bart die Rollen von Benno, Siegfrieds Freund, und Rotbart, dem Premierminister, tänzerisch aufgewertet und ihnen neue Facetten verliehen. Diese Produktion ist sein 1997 fester Bestandteil des Repertoires des Staatsballetts Berlin.
Einspringen aus Leidenschaft
Krankheits- und verletzungsbedingt gab es einige Umbesetzungen in letzter Minute und auch Iana hätte ursprünglich an diesem Sonntag frei haben sollen, anstatt hier mit mir zu sitzen. Als „Principle Guest“ der Kompagnie kennt sie ihre Termine mindestens ein Jahr im Voraus und kann Gastengagements entsprechend planen. Trotzdem wollte sie Publikum und Kollegen heute nicht hängen lassen und übernahm diese zusätzliche Verpflichtung gern.
Odette/Odile im Wandel der Zeit
„Als Schwan empfinde ich die Rolle überall gleich, auch wenn die Inszenierungen und die Choreographien sich unterscheiden“, verrät sie mir. „Mit den Jahren der Erfahrung insbesondere auch mit anderen Stücken, aus denen ich jedes Mal eine Kleinigkeit mitnehme, verändert sich auch meine Interpretation als Schwan kontinuierlich. Heute empfinde ich ganz andere Emotionen bei der Verkörperung von Odette/Odile als zu Beginn meiner Karriere. Auch meine Technik ist eine andere als in meinen frühen Interpretationen vor etwa fünfzehn Jahren. Nicht zuletzt die Geburt meiner Kinder hat mich stärker gemacht – sie lässt mich auch jeden Moment auf der Bühne stärker genießen.“

Ballett für den guten Zweck
Am 4. Mai wird erneut die Ballettgala ‚Ballet for Life by Iana Salenko‘ im Admiralspalast stattfinden. Im Jahr 2022, nur wenige Wochen nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, riefen Iana Salenko und Oleksandr Shpak die erste Benefizveranstaltung unter dem Titel ‚Ballet for Life‘ ins Leben. Sowohl diese Gala als auch die Folgeveranstaltung im Jahr 2023 zeigten eindrucksvoll die Solidarität der internationalen Tanzszene mit der ukrainischen Bevölkerung.
Die künstlerische Leitung der Gala-Reihe liegt bei dem Choreographen und Tänzer Arshak Ghalumyan sowie der Tanzdramaturgin Nicole Kohlmann. Zahlreiche Tänzerinnen und Tänzer bedeutender europäischer Compagnien – darunter das English National Ballet, das Royal Swedish Ballet, das Royal Ballet in London sowie Het Nationale Ballet aus Amsterdam – haben ihre Teilnahme zugesagt. Iana Salenko wird höchstpersönlich eine neue Choreographie von Arshak Ghalumyan präsentieren. Die Eintrittspreise sind bewusst niedrig gehalten und alle Besucher werden gebeten über diesen Link eine Spende abzugeben, die zur Unterstützung kriegsverletzter Kinder in der Ukraine verwendet wird. „Im Jahr 2022 hatte ich das große Bedürfnis, auf diesem Wege etwas Hilfe zu leisten und habe die Gala damals fast ganz alleine auf die Beine gestellt. Inzwischen gibt es mehrere Leute, die sich um die Organisation kümmern und ich kann dieses Event jetzt entspannter angehen.“
Zwischen Unterricht und Inspiration
Iana bietet Online-Masterclasses an. Für wen sind diese Angebote gedacht? „Im Prinzip für jede Tänzerin, ganz egal ob Laie oder Profi. Heute gibt es für alles online-Angebote und wenn ich im Haus etwas zu reparieren habe, suche ich auch nach Tutorials, die mir helfen. Durch die Dance Masterclasses können alle Interessierten ihren Lieblingskünstlern sehr nahe kommen und Tipps und Tricks von ihnen erfahren, auch wenn Sie sehr weit entfernt leben. Eine vollständige Ausbildung können diese Angebote nicht ersetzen, aber sie sind ein Baustein dazu. Manchmal gebe ich auch Masterclasses im Präsenzunterricht. Mich vor so vielen Menschen in einem Vortrag emotional zu öffnen kostet mich aber viel Kraft und ich mache das nicht oft. Viel lieber wäre mir 1-1 Unterricht, bei dem ich nicht nur Ballett unterrichte, sondern die Person auch coache und mental unterstütze. Im Moment habe ich keine Zeit für so etwas, aber das wäre ein mögliches Projekt für die Zukunft.“
Alltag mit starken Männern
Du lebst mit Deinem Mann und Euren drei Söhnen zusammen. Fällt es Dir leicht, Dich in diesem Männerhaushalt durchzusetzen? „Ich bin mit vier Brüdern aufgewachsen und verstehe mich in der Regel besser mit Männern als mit Frauen. Insofern passt das sehr gut. Mit unserem ersten Sohn war alles noch ganz einfach und er war sehr pflegeleicht, aber jetzt, mit drei Kindern muss ich auch schon mal lauter werden, um mich durchzusetzen.“ berichtet sie aus ihrem Familienalltag.
Bühne und Bildschirm
Ist Social Media wichtig in Deiner Karriere? „Ich finde ja, weil ich mit den Online-Masterclasses Geld verdiene. Das ist ähnlich wie bei einem Influencer. Dank Social Media können die Leute heute ihren Stars auch näher sein und auf diesem Wege Kontakt mit ihren Idolen aufnehmen. Das hätte ich früher auch gerne gehabt. Ich war schon Solistin, bevor Social Media aufkam, also habe ich nicht deswegen Karriere gemacht.“ Oft stößt man im Internet auf Fake-Beiträge. „Ich habe schon oft gut inszenierte Tanzvideos auf Instagram gesehen und wenn man die Person dann real vor sich hat, kommt da gar nichts rüber. Vieles im Netz ist unecht und ich probiere mich immer locker und natürlich zu zeigen. Da darf man auch sehen, dass ich nicht perfekt bin, sondern mir auch mal was misslingt. Auch Stürze sind in meinen Masterclass-Videos zu sehen und, dass ich darüber lachen kann. Auf der Bühne strebe ich natürlich immer nach Perfektion, aber Social Media zeigt eben eine andere Seite von mir.“ Auf diese Weise kann Iana einem großen Publikum – allein auf Instagram hat sie zurzeit etwa 345.000 Follower – zeigen, dass man mit dem nötigen Mindset und harter Arbeit auch trotz ihrer eher geringen Körpergröße von 1,58 Metern und nicht sehr langen Beinen bis an die Spitze tanzen kann. „Man kann alles erreichen und dies möchte ich den Leuten auf diesem Wege in Erinnerung rufen.“
Noch nicht am Ziel
Ich habe den Eindruck, dass die charismatische Ballerina aus Kiew schon alles erreicht hat, was eine Tänzerin überhaupt erreichen kann. Tatsächlich gibt es neben der Verkörperung von weiteren Traumrollen wie Manon oder Die Kameliendame, bei der sie ihre ganze darstellerische Raffinesse einsetzen könnte noch einen weiteren unerfüllten Traum: „Ein wirklicher Traum ist es, dass ein Choreograph ein ganzes Ballett nur für mich choreographiert. Das wäre die Krönung meiner Karriere.“

Ehrungen sind nicht alles
Du hast unzählige Preise gewonnen und im vergangenen Jahr den Titel Kammertänzerin verliehen bekommen. Was bedeuten Dir alle diese Ehrungen? „Am Anfang meiner Karriere waren die Preise sehr wichtig. Sie haben mir geholfen, stark zu sein und gaben mir Bestätigung. Aus heutiger Sicht haben Titel und Preise nicht mehr so eine große Relevanz. Kommt etwas, okay. Kommt nichts, kann ich auch damit leben. Vor einem Jahr wurde ich mit dem Titel Kammertänzerin geehrt. Dies ist eine große Ehre und ich habe mich selbstverständlich darüber gefreut, aber der Titel hat mein Leben nicht verändert. Ich lebe jetzt und was in der Vergangenheit war, ist vorbei. Ehrungen werden ja immer für etwas verliehen, was bereits gewesen ist.“
Tanzen bis 50 – und vielleicht darüber hinaus
Es heisst oft, für Tänzer sei mit spätestens 40 Jahren Schluss. Du wirst in diesem Jahr 42 und hast vor einiger Zeit gesagt, Du willst bis 50 tanzen. Wie ist dies möglich? „Mein Plan ist tatsächlich so lange zu tanzen, wie es irgend geht und da betrachte ich das Alter von 50 Jahren als einen realistischen Horizont. Tatsächlich bin ich offen für alles, was kommt, aber aktuell habe ich den Willen, bis zu diesem Alter zu tanzen und ich werde hart dafür kämpfen.“
Federleicht und aus der Spur
Bei aller Disziplin und dem Streben nach Perfektion ist der Bühnenalltag aber oft auch von lustigen Anekdoten geprägt. „Jeder Tag ist ein neuer Tag. Perfekt bin ich nie, aber ich gebe alles dafür, dass die Zuschauer dies während meiner Interpretation nicht bemerken. Auch jetzt noch versuche ich, jeden Tag besser zu werden und es wird immer noch ein bißchen Luft nach oben geben. Wir sind Künstler und keine Maschinen. Heute bin ich zum Beispiel gerade erst aus Maribor gekommen und habe kaum geschlafen. Man fühlt sich jeden Tag anders und auch wenn ich viel Mal hintereinander die gleiche Rolle tanze, ist das Ergebnis jedes Mal ein anderes.“ Das Lustigste, das Iana Salenko auf der Bühne passiert ist? „Im Schwanensee hatte der Prinz vor zwei Tagen eine etwa 20 Zentimeter lange Feder am Ärmel. Ich kam zu ihm und machte ihn drauf aufmerksam, aber er konnte sie sich selbst nicht entfernen. Dann kam ich als Schwan zu ihm und zog sie raus, ich tanzte mit der Feder in der Hand und warf diese schließlich auf den Boden. Da hatte das Publikum was zu lachen.“ Es ist auch schon vorgekommen, dass Iana und ihr Partner einen falschen Weg gelaufen sind. Das ganze Corps de Ballet sollte in dieser Szene folgen und tat dies auch. „Da haben wir ein ziemliches Chaos auf der Bühne produziert.“ erzählt sie lachend.
Rituale vor dem großen Moment
Schließlich möchte ich noch wissen, wie die zwei Stunden zwischen unserem Interview und dem Beginn der Vorstellung aussehen werden. „Trainiert habe ich schon. Ich gehe in die Maske und bekomme dort mein Make-Up und meine Haare werden gemacht. Anschließend gehe ich auf die Bühne und probiere verschiedene Spitzenschuhe aus. Der Boden in dieser Produktion ist speziell und ich muss die Schuhe finden, die optimal dazu passen. Ich habe fünf Paare dabei, davon werde ich zwei Paare während der Vorstellung benutzen. Dann konzentriere ich mich natürlich noch auf die Vorstellung, um den Zuschauern einen möglichst perfekten Abend präsentieren zu können.“
So kam es denn auch: eine mitreißende, hoch emotionale Vorstellung, der man das Arbeitspensum ihrer Hauptdarstellerin nicht anmerkte. Vielen Dank für das Gespräch – und für diesen berührenden Abend.
Marc Rohde im April 2025