OF: Lieber Herr Witzel, vergangenen März hatte an der Staatsoper Stuttgart Bernhard Langs neue Oper Dora, zu der Sie das Textbuch schrieben, ihre gefeierte Premiere. Wie kam es dazu, dass Sie den Auftrag zur Verfassung des Librettos bekamen?
W: Die Stuttgarter Oper hat Bernhard Lang und mich zusammengebracht. Intendant Viktor Schoner und Dramaturg Miron Hakenbeck hatten die Idee, dass zwischen uns beiden eine produktive Zusammenarbeit möglich sein könnte, und sie hatten recht.
OF: Wie war Ihre Zusammenarbeit mit Bernhard Lang?
W: Die Zusammenarbeit mit Bernhard Lang war für mich ideal. Bernhard ist ein überaus erfahrener Opernkomponist, mit über zwanzig Opernkompositionen, während ich zu dem Zeitpunkt, als die Arbeit an Dora begann, erst ein Libretto verfasst hatte. Er hat mich während meiner Arbeit immer wieder mit wertvollen Hinweisen unterstützt und entscheidende Ideen zu Form und Aufbau beigetragen.
OF: Haben Sie und Bernhard Lang irgendwelche Gemeinsamkeiten? Wenn ja, wo liegen diese?
W: Wir sind vom Geburtsjahr nur zwei Jahre auseinander, gehören also einer Generation an, weshalb es viele Gemeinsamkeiten in unserer künstlerischen, vor allem aber auch musikalischen Sozialisation gibt. Wir interessieren uns beide für viele Musiken, neben der Klassik spielen Pop und Jazz eine besondere Rolle, und natürlich die Moderne bis hin zur Gegenwart. Zudem teilen wir das Interesse an Literatur.
OF: Wie kamen Sie gerade auf den Namen Dora?
W: Das war eine eher intuitive Entscheidung. Natürlich musste es ein gut singbarer Name sein, dann sollte er etwas Zeitloses haben. Eigentlich ist Dora zu stark konnotiert (durch Freud, Kafka und mehr), was eigentlich gegen eine Verwendung sprechen würde, da unsere Dora ein ganz eigenständiger Charakter ist. Doch bei der Arbeit hat sich der Name immer stärker gefestigt, bis für mich jede Verbindung zu anderen Namensträgerinnen verloren ging.
OF: Welche Intentionen verfolgten Sie mit Ihrem Dora-Libretto?
W: Wir wollten eine zeitgenössische Oper in traditioneller Form machen. Das heißt, die etablierten Möglichkeiten benutzen, um etwas Neues zu erzählen. Dazu gehört auch die Selbstfindung einer Figur, die als Sujet bekannt ist, die ich aber auf eine neue Weise erzählen wollte.
OF: Welche zeitgenössische Relevanz messen Sie der Dora zu?
W: Das kann ich selbst schwer beurteilen. Mir ging es allerdings schon darum, eine Zeit abzubilden, in der die bislang bekannten Möglichkeiten der Selbstfindung oder Heldinnen-Reise nicht mehr funktionieren, ohne dass bereits neue Möglichkeiten etabliert sind. In dieser Zwischenzeit versucht Dora dennoch einen Weg für sich zu finden.
OF: Wie gestaltete sich Ihr Arbeitsprozess an dem Dora-Libretto? Wie war sein Verlauf?
W: Ich habe mich recht lange mit der Suche nach einem Thema, einem Stoff für die Oper beschäftigt und mich anfänglich erst einmal an verschiedenen tatsächlich existierenden Biographien orientiert. Dann irgendwann erschien mir diese junge Frau, wie sie durch eine Landschaft geht und diese Landschaft beschimpft, so wie die Oper ja auch tatsächlich beginnt. Daraus hat sich dann alles Weitere entwickelt.
OF: Wer ist Dora überhaupt? Wie ist sie charakterlich einzuordnen?
W: Dora ist eine junge Frau, die in eher prekären Verhältnissen in ihrer Familie lebt und keinerlei wirkliche Einbindung besitzt, weder durch Beruf noch Ausbildung. Die äußeren Möglichkeiten, die ihr angeboten werden, sind also eher dürftig. Dennoch, oder gerade deshalb, sucht sie nach einem ganz eigenen Weg der Entwicklung.
OF: In der Dora wird viel philosophiert. Welchen Stellenwert nimmt die Philosophie in Ihrem Libretto ein?
W: Das theoretische Reflektieren spielt in meiner schriftstellerischen Arbeit generell eine große Rolle. Es existiert beinahe gleichberechtigt neben dem Erzählen. Die Figuren in Dora versuchen ihre Lebenssituation zu hinterfragen und denken auch innerhalb von Beziehungen über Möglichkeiten einer Veränderung nach. Gerade im letzten Akt kommt es zu einem stark philosophischen Austausch über die Möglichkeiten innerhalb der eigenen Existenz zwischen beinahe allen Figuren, Dora, dem Teufel, dem Chor.
OF: Philosophischer Natur ist sicher auch das Sondern, das im fünften Akt eine wesentliche Rolle spielt. Was hat es damit auf sich?
W: Das Sondern bleibt in sich erhalten, ohne auf etwas direkt zu verweisen. Es zeigt die Möglichkeit auf, ohne sie zu benennen, benennen zu können. Seine Bedeutung wird dadurch verstärkt, dass es von dem verstummten Berthold aufgenommen wird, der seine Silben neu zusammensetzt.
OF: Worin liegt das Wesen des Antiken Chores?
W: Der Antike Chor vertritt die vergangene Kultur, insbesondere die der Antike und des Mittelalters, von der Dora nichts mehr weiß. Der Chor bietet Dora, die ihn zusammen mit dem Publikum wohl als Einzige hört, immer wieder Handlungsmöglichkeiten an, die aus einem traditionellen Kulturschatz stammen, und die sie in der Regel verwirft.
OF: Eine der interessantesten Figuren der Oper ist der Teufel. Er sorgt oft für Heiterkeit. Wie ist es: Haben Sie ihn als komische Figur konzipiert?
W: Der Teufel taucht bei mir in einer Mischung aus Bürokrat und Zyniker auf. Da er aus der Zeit gefallen ist, wirkt er lustig, auch durch seine ironischen Bemerkungen. Doch sollte man sich nicht täuschen lassen, das teuflische Element ist immer noch wirkmächtig in ihm, da er sehr geschickt die Schwächen der Menschen erkennt und entsprechend ausnutzt und sie damit, wie im Fall Berthold, in die Vernichtung treibt.
OF: Im zweiten Akt vollführt Dora eine Teufelsbeschwörung. Warum greift sie hier zum Mittel der Magie?
W: In einer säkularisierten Welt ist das Doras Versuch, mit den Mitteln, die sie aus Filmen kennt, etwas zu mobilisieren, von dem sie selbst nicht sagen könnte, was genau es ist. Sie versucht damit auch, ihre ungebündelte Energie in eine für sie produktive Richtung zu lenken.
OF: Warum erkennt Dora den Teufel nicht, als er schließlich leibhaftig vor ihr steht?
W: Sie kann ihn nicht erkennen, weil sie seine Merkmale nicht zu lesen, seine Attribute nicht zu entschlüsseln versteht. Der Chor versucht sie darauf hinzuweisen, jedoch vergeblich. Dora ist auch hier auf sich selbst gestellt.
OF: Wie stehen Dora und der Teufel zueinander? Sind sie womöglich Spiegelbilder bzw. Alter Egos?
W: Ich habe das nicht so angelegt, aber es ist bestimmt eine Möglichkeit, das so zu interpretieren. Für mich ist der Teufel der Widersacher Doras, der aber gar nicht als Widersacher erkannt wird.
OF: Mit dem Berthold ist Ihnen ein überaus sympathischer Charakter gelungen. Welche Funktion kommt dieser Figur im Gesamtkontext der Oper zu?
W: Er ist der romantisch-verträumte Charakter, der von dem Gefühl der Liebe geleitet wird, was Bernhard mit seiner Musik wunderbar unterstützt und mit vielen Ebenen unterlegt. Er ist jedoch nicht als Gegenentwurf gedacht, da er auch erst im vermeintlichen Scheitern ins wirkliche Leben gelangt, um sich dort zu bewehren.
OF: Liebt Dora Berthold? Hat sie ihn wirklich geküsst? Bleibt sie am Ende bei ihm?
W: Genau das sind die Fragen, die offen bleiben.
OF: Im fünften Akt hat Berthold seine Fähigkeit zu sprechen fast ganz eingebüßt und kann eigentlich nur noch stammeln. Ist es möglich, dass er mit der ständigen gebrochenen Wiederholung des bereits oben erwähnten Wortes Sondern eine neue Sprache begründet?
W: Ja, durchaus. Es ist womöglich die Sprache des Sondern, die sich ihres Verweischarakters immer bewusst ist.
OF: Hatten Sie gleich Bernhard Lang Gelegenheit, den Probenprozess an der Stuttgarter Staatsoper zu begleiten?
W: Ja, natürlich lange nicht so intensiv wie Bernhard, der die ganzen Proben über anwesend war, aber ich konnte einige Proben verfolgen.
OF: Hat die Stuttgarter Dora-Inszenierung von Elisabeth Stöppler Ihre Intentionen getroffen? Wurden Ihre Erwartungen von ihr erfüllt?
W: Ich hatte gar keine konkreten Erwartungen an die Inszenierung. Um das Libretto verfassen zu können, habe ich mich an einer recht konkret-realistischen Umgebung orientiert, damit ich meinen Fokus auf die Dialoge der Figuren konzentrieren konnte. Elisabeth Stöppler hat dazu eine ganz eigene, sehr faszinierende und für mich schlüssige Welt entworfen, die mit einer selbständigen Symbolsprache arbeitet, die sich dem plumpen Realismus glücklicherweise verweigert. Damit hat sie unserer Komposition ein weiteres, wichtiges Element hinzugefügt und die Oper in ein Gesamtkunstwerk verwandelt.
Ludwig Steinbach, 29. Oktober 2024