Kaltes und regnerisches Wetter war nicht der schlechteste Stimmungshintergrund für die Aufführung von Verdis Requiem in der Kölner Philharmonie, zu dem das Gürzenich-Orchester Köln und die Oper Köln in einer Koproduktion eingeladen hatten. Um es vorwegzunehmen, dieser Vormittag in einem der schönsten Konzertsäle überhaupt übertraf alle Erwartungen und hätte ein ausverkauftes Haus verdient gehabt. Vielleicht war mancher potentiellen Besucherin bzw. manchem potentiellen Besucher nicht klar, dass Verdi mit seinem Requiem zu Ehren des verstorbenen Dichters Alessandro Manzoni im April 1874 einen Geniestreich vollendet hatte, den auch Michael Lohse in seiner Konzerteinführung leicht ironisch als Verdis kompakteste und gelungenste Oper bezeichnete. Ohne eine störende und das Publikum verwirrende Handlung lege Verdi in sein nur fünfundachtzig Minuten währendes Requiem, einen durchkomponierten Opernakt, alles hinein, was der an Aida oder Il Trovatore geschulte Opernliebhaber vom Komponisten erwarte: überwältigende Chorszenen, melodiöse Arien und beeindruckende Ensemblesätze. 120 Sängerinnen und Sänger im Chor sowie 100 Instrumentalisten im Orchester seien eine wahrlich opernhafte Besetzung.
Tatsächlich trat Verdis Manzoni-Requiem nach der Uraufführung in der Kirche San Marco in Mailand am 22. Mai 1874 sehr schnell seinen Siegeszug in den Konzertsälen der europäischen Metropolen an, und dies, obwohl Verdi und seinem Werk heftiger Gegenwind ins Gesicht blies. Berühmt ist das Verdikt Hans von Bülows, des späteren Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker, der in seiner Kritik in der Augsburger allgemeinen Zeitung von einer „Monstre-Aufführung“ und einer „Oper im Kirchengewande“ sprach. Verdi selbst zeigte sich milde und nachsichtig gegenüber derartigen Verrissen, für ihn sollte das Requiem Höhepunkt und Ende eines langen, glanzvollen Komponistendaseins bilden, in dem Grundfragen menschlichen Lebens, vor allem natürlich die Themen Leben und Tod, Todesangst und Lebenszuversicht und ganz zentral die Frage nach der Sinnhaftigkeit unserer Existenz in Text und Musik beklemmend, z.T. schockierend, dann wieder tröstlich und versöhnlich abgehandelt werden. Dass mit seinem Otello und mit seinem Falstaff dann doch noch zwei meisterhafte Alterswerke folgen sollten, war im Mai 1874 nicht abzusehen.
Der Chor der Oper Köln und der WDR Rundfunkchor (Einstudierung: Rustam Samedov, Michael Alber) boten an diesem Vormittag in der Kölner Philharmonie eine phantastische Leistung. Dass der Chor der Oper Köln anlässlich der OPER!AWARDS die Auszeichnung als „Bester Chor“ erhielt und dass der WDR Rundfunkchor ein weltweit gefragtes und geschätztes Vokalensemble ist, wurde bei dieser Aufführung glanzvoll bestätigt. Dem einleitenden Requiem in herrlichstem Piano folgte ein Dies irae, das die Schrecken vom Ende der Zeit und die Furcht vor dem großen Weltgericht in überwältigender, drohender Intensität heraufbeschwor. Diese großartige Chorleistung wurde nicht nur vom Publikum frenetisch bejubelt, sondern auch die Damen und Herren des Orchesters stimmten in diesen Beifallssturm ein. Dabei gebührt dem Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von Michele Mariotti, Musikdirektor des Teatro dell‘ Opera in Rom, ein nicht minder großes Lob für eine ungemein differenzierte, klangschöne, kraftvolle und unter die Haut gehende Interpretation des Orchesterparts.
Michele Mariotti begleitete mit dem wunderbaren Gürzenich-Orchester auch die Solistinnen und Solisten dieses denkwürdigen Vormittags ganz in dem Sinne, den Verdi den Sängerinnen und Sängern seines Requiems ans Herz gelegt hatte. Seinem Verleger Ricordi teilte er mit: „Sie verstehen gewiss besser als ich, dass diese Messe nicht wie eine Oper gesungen werden darf und dass also Phrasierungen und Dynamik, wie sie auf dem Theater angebracht sind, mir hier nicht – aber auch schon gar nicht – zusagen.“
Die aus München stammende Sopranistin Susanne Bernhard hätte Verdi mit ihrer Anlage der Sopranpartie pure Glücksmomente beschert. Diese schenkte sie nun dem Kölner Publikum mit einer glockenreinen Stimme und einer herrlich auf Linie gesungenen, in den Pianopassagen berückend schönen Interpretation. Dass im abschließenden Libera me einige Spitzentöne durch Chor und Orchester verdeckt wurden, spielt da überhaupt keine Rolle.
Die kanadische Mezzosopranistin Marie-Nicole Lemieux, an allen großen Bühnen der Welt als Barockspezialistin, aber auch als Dalila, Carmen, Ulrica oder Azucena gefeiert, ergänzte sich mit ihrer Kollegin ganz wunderbar. Im Agnus Dei verschmolzen beide Stimmen fast zu einer einzigen, kein Übertrumpfen, reiner Dienst im Sinne der Werkerfüllung. Der armenische Tenor Liparit Avetisyan, dem Kölner Opernpublikum als Herzog in Rigoletto und Fenton in Falstaff noch gut in Erinnerung, ist mittlerweile zu einem der gefragtesten lyrischen Tenöre seiner Generation geworden. Sein Ingemisco sang er mit wunderbarer Mezza voce, die den flehentlichen Grundton des Textes ideal wiedergab. Der georgische Bass Giorgi Manoshvili, der im Sommer in Verona zu hören sein wird, fügte sich in dieses erlesene Sängerquartett herrlich ein. Sein warmer, strömender Bass erinnerte an große Interpreten dieser Partie wie Cesare Siepi oder Nicolai Ghiaurov. Sein Confutatis maledictis wurde so zu einem ganz besonderen Höhepunkt des Konzerts.
Das Kölner Publikum verharrte nach dem letzten Ton lange Zeit in tiefem Schweigen. Gibt es ein besseres Zeichen dafür, welchen nachhaltigen Eindruck die musikalische Darbietung auf alle Hörerinnen und Hörer im Saal hinterlassen hatte? Der dann aufbrausende Jubel wollte kein Ende nehmen. Er schwoll zum Orkan an, als sich die Damen und Herren des Chors vor dem Publikum verbeugten.
Norbert Pabelick, 3. Juni 2024
Messa da Requiem
Guiseppe Verdi
Kölner Philharmonie
2. Juni 2024
Musikalische Leitung: Michele Mariotti
Gürzenich-Orchester Köln
Chor der Oper Köln/WDR Rundfunkchor