Im Rahmen des Puccinijahres brachte die Scala zwei Werke des Meisters heraus, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Ist die nie wirklich populär gewordene „Rondine“ im 1. und 3. Akt einem gewissen Konversationston verpflichtet, so ist „Turandot“ dramaturgisch so gestaltet, dass sie im 19. Jahrhundert wohl als „grand-opéra“ bezeichnet worden wäre.
Vor allem der 2. Akt mit dem Hofstaat des Kaisers hat immer wieder zu Ausstattungsorgien geführt, die als mehr oder weniger unabdingbar gelten (will man nicht, wie Herr Guth in Wien, zwar auf jeden Pomp verzichten, dafür aber unansehnliche Bilder in psychoanalytischer Verbrämung auf die Bühne bringen). Diesmal aber ist es Davide Livermore, dessen Regietaten ich nicht immer frei von Kritik gegenüberstehe, gelungen, mit seinem Team (Mariana Fracasso, Kostüme, Antonio Castro, Licht, D-WOK, Videos) und einem von Eleonora Peronetti, Paolo Gep Cuccio und ihm selbst erarbeiteten Bühnenbild eine szenisch ausgewogene Lösung zu finden. Der 1. Akt spielt in einer heutigen chinesischen Metropole (in der auch ein Hotel „Amour“ steht), in der der schwarz gekleidete Chor zunächst hereinkriecht und sich im Lauf der Handlung auf den zum Tod verurteilen Persischen Prinzen (hier nicht als Principe, sondern als Principino geführt) stürzt, ihn misshandelt und entkleidet. In dieser bedrückenden Atmosphäre treffen Liù und Timur mit Calaf zusammen, während eine symbolische Turandot dem Prinzen eine rote Schlinge um den Hals legt und ihn tötet. Auch die drei Minister wirken bedrohlich und sind in ihrer Szene zu Beginn des 2. Akts alles andere als Commedia dell’Arte-Figuren, sondern lebhafte, aber zwielichtige Charaktere in einem an ein Bordell erinnernden Ambiente. Der nach dem Überleitungsmarsch zu sehende Thronsaal zeichnet sich nur durch die allernötigsten Chinoiserien aus und überrascht mit Altoum, der nicht auf einem Thron in der Höhe sitzt, sondern vorne steht und versucht, Calaf von seinem Vorhaben abzubringen. Die von Turandot beschworene Ahnin ist eine ihr folgende in Grau gehüllte Tänzerin. Im 3. Akt befinden wir uns neuerlich in der Szenerie des ersten, wo die mit Taschenlampen verzweifelt nach dem Namen des unbekannten Prinzen Suchenden eine gefährliche Stimmung erzeugen. Schwarz gekleidet sieht Turandot, scheinbar unberührt, Liùs Opfertod zu.
Überzeugend das Schlussbild, die Prinzessin in einem rosafarbenen Kleid, sich ergebend, wieder schwankend und schließlich besiegt, als Calaf nicht sie, sondern die Ahnin küsst und damit Turandots Trauma ein Ende setzt. Wie sehr auf Details geachtet wurde, zeigte sich, als Altoum bei seiner Tochter Worten „So il suo nome“ kurz erschrickt und sich erst bei „Il suo nome è Amore“ wieder beruhigt. Im Laufe des Abends ist ein immer wieder anders ausgeleuchteter Mond zu sehen, und es sei auch nicht verschwiegen, dass es ein paar enigmatische Auftritte gab, etwa in jedem Akt das Drahtskelett eines Pferdes oder die auf Stöcken geschwungene Abbildung von Störchen, sodass ich es nicht Calaf gleichtun konnte und nicht alle Rätsel dieser Produktion gelöst habe. Aber insgesamt eine beeindruckende und sehr spannende Inszenierung. Und es war ein schöner Einfall, nach Liùs Tod ein Bild Giacomo Puccinis zu zeigen mit dem Hinweis, dass der Meister an dieser Stelle der Komposition gestorben war. Dazu waren im Publikum kleine elektrische Kerzen verteilt worden, welche die Schweigeminute beleuchteten.
Ohne die musikalische Seite hätte die Inszenierung aber ihre Wirkung nicht so überzeugend entwickeln können. Da war einmal Michele Gamba am Pult des Orchesters des Hauses, dem es gelang, ein beeindruckendes, die der Moderne verbundenen orchestralen Einfälle Puccinis stark herausarbeitendes Konzept brillant umzusetzen. Für die stimmliche Leistung des von Alberto Malazzi einstudierten Chors des Hauses fehlen bald die Lobesworte, also sei auch sein überzeugender szenischer Einsatz hervorgehoben. Das Phänomen Anna Netrebko prunkte in der Titelrolle mit ihrem Sopran, bei dessen Qualität man nicht automatisch an die eisumgürtete Prinzessin denken würde. Er drang mühelos über das Orchester, ohne je scharf zu werden, umso mehr beeindruckte die immer durchscheinende Verletzlichkeit der Figur mit wundervollen piani, sodass Turandots Öffnung der Liebe gegenüber nicht aus dem Nichts kam. Stimmlich glanzvoll war der für den absagenden Roberto Alagna eingesprungene Brian Jadge mit explodierenden Spitzentönen, die aber nicht isoliert waren, sondern technisch angebunden an den Rest der Stimme. (Natürlich sang er auch das wahlweise hohe C in der Rätselszene). Mehr als eine leicht schwächelnde Mittellage störte mich (wie schon bei seinem Turiddu) trotz tadelloser Diktion die völlige Absenz von Ausdruck, sowohl in vokaler wie in mimischer Hinsicht. An Ausdruck mangelte es der Liù von Rosa Feola nicht, die Erschütterung bei ihrer Szene vor ihrem Selbstmord ging weit über die sonst übliche Rührung hinaus. Allerdings fehlte es ihrer Stimme manchmal ein wenig an Gewicht, denn sie ist noch kein echter soprano lirico – das kommt aber sicher noch. Einen wahrhaft königlichen Bass ließ Vitalij Kowaljow als vertriebener Timur hören, dessen Klage an Liùs Leiche sehr bewegend war. Der Veteran Raúl Giménez gab einen berührenden, der vielen Hinrichtungen merkbar müden, Altoum. Alle drei Minister waren Asiaten anvertraut: Dem koreanischen Bariton Sung-Hwan Damien Park (Ping) und den chinesischen Tenören Chuan Wang (Pang) und Jinxu Xiahou (Pong). Neben guten stimmlichen Leistungen brachten sie auch eine ganz unasiatische Verve in ihre Rollenporträts ein. Haiyang Guo aus der Accademia der Scala steuerte den Todesschrei des von einem Tänzer interpretierten Persischen Prinzen bei.
Sehr viel Beifall und Jubel, der aber angesichts der Qualität der Aufführung länger hätte anhalten dürfen.
Eva Pleus, 15. Juli 2024
Turandot
Giacomo Puccini
Teatro alla Scala
Premiere am 25. Juni 2024
Besuchte Aufführung: 9. Juli 2024
Inszenierung: Davide Livermore
Musikalische Leitung: Michele Gamba
Orchestra del Teatro alla Scala