Aufführung am 6. April 2018
Ein breit gestreutes Konzertprojekt
Eine Aufführung von Benjamin Brittens „War Requiem“ hat natürlich zu jedwedem Zeitpunkt Berechtigung, aber der besondere moralische Appell des Werkes ist derart auf ein historisches Darum fixiert, dass jede Darbietung darüber hinaus gehende spezielle Querverweise erwarten lässt. Im (vorbildlichen) Programmheft des Kölner Bach-Vereins äußert sich die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters. Sie greift bis auf den Prager Fenstersturz 1648 zurück, welcher den dreißigjährigen Krieg auslöste (Beendigung durch den Westfälischen Frieden) und kommt dann notwendigerweise auf den Ersten Weltkrieg zu sprechen, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie auch den Zweiten. Dieser führte u.a. zur Zerstörung der Kathedrale im englischen Coventry, ein Ereignis, an welches Brittens Requiem nachdrücklich erinnert und auch seine Entstehung verdankt. Die gegenwärtigen Weltereignisse zeigen übrigens, dass nicht oft genug erinnert werden kann.
Der Bach-Verein gab sich mit einer Aufführung in der Philharmonie nicht zufrieden. Zwei Tage präsentierte man das Werk im National Forum of Music in Wroclaw (Breslau), danach auch in der Berliner Philharmonie. Die große Chorbesetzung gelang durch den auch symbolischen Zusammenschluss von Coventry Cathedral Girl’s Choir, Polnischem Nationaljugendchor, belgischem Knabenchor „Les Pastoureaux“, dem Jugendchor der Bonner Lukaskirche und natürlich dem Chor des Kölner Bach-Vereins. Für den instrumentalen Part wurde das Bundesjugendorchester verpflichtet (es wird von den Berliner Philharmonikern gefördert), ergänzt durch Mitglieder des Orchestre Francais des Jeunes. Die Solistenbesetzung entsprach zwar nicht vollständig ganz den Intentionen des Komponisten (Sänger von einst verfeindeten Nationen), aber das war auch bei der Uraufführung 1962 in Coventry nicht der Fall. Die Mitwirkung des Engländers Peter Pears und des Deutschen Dietrich Fischer-Dieskau warf keine Probleme auf, doch die Russin Galina Wischnewskaja erhielt keine Ausreisegenehmigung und musste kurzfristig durch die Engländerin Heather Harper ersetzt werden. An der ein Jahr später erfolgten Schallplatteneinspielung durfte sie dann aber mitwirken. Die deutsch-türkische Sopranistin Banu Böke konnte man jetzt als stimmige Alternative betrachten. Tenor James Gilchrist und Bariton Erik Sohn entsprachen der „nationalen Idee“ voll und ganz.
Die mit größtem Enthusiasmus aufgenommene Kölner Premiere des „War Requiems“ ließ fast vergessen, dass die Entstehung des Werkes von mancherlei Schwierigkeiten belastet war, beginnend mit immer wiederkehrenden Selbstzweifeln Benjamin Brittens. „Manchmal scheint es das Beste zu sein, was ich je geschrieben habe, weitaus öfter allerdings auch das Schlechteste. Aber so ist das immer mit mir.“ Für die Tiefenwirkung der Musik und die gesamte Werkkonzeption mag indes sprechen, dass Dietrich Fischer-Dieskau, der nicht gerade für emotionales Überschäumen bekannte Sänger, später einmal eingestand, „innerlich völlig aufgelöst“ gewesen zu sein. „Die gefallenen Freunde standen auf und die vergangenen Leiden.“
Die dramaturgische Anlage des „War Requiems“ ist eine ungewöhnliche. Britten kombiniert Teile der traditionellen Totenmesse mit Anti-Kriegs-Gedichten von Wilfried Owen, der mit nur 25 Jahren im Ersten Weltkrieg sein Leben verlor. Die Messteile werden von Sopran, gemischtem Chor und großem Orchester wahrgenommen; ein orgelbegleiteter Kinderchor steht für die Imagination des Jenseitigen und für das Symbol von Unschuld. Die Owen-Gedichte sind den männlichen Solisten in den Mund gelegt und werden von einen Kammerensemble mit eigenem Dirigenten begleitet. Zu den ergreifendsten Texten gehört fraglos der letzte im „Libera me“, vorgetragen vom Bariton. In einer imaginären Szene trifft ein Soldat auf seinen ehemaligen Gegner. „Ich bin der Feind, den du getötet hast, mein Freund.“ Dann vereinigen sich beide Stimmen: „Lass uns jetzt schlafen.“ Sopran und Chor beenden das Requiem mit den Worten „Sie mögen ruhen in Frieden. Amen.“
Der enorme Aufwand für die Aufführung des „War Requiems“ (300 Mitwirkende) wurde in Köln mit großem Publikumsandrang belohnt, später auch mit enthusiastischem Beifall. Und man darf wohl davon ausgehen, dass der pazifistische Impetus des Werkes gerade jetzt besondere Wirkung machte, wo sich Krieg und Gewalt auf das Leben der Menschen verstärkt und weltweit auswirken. Die Initiative von Thomas Neuhoff, Leiter des Bach-Vereins und schon immer aktiv in der Erarbeitung ungewöhnlicher musikalischer Projekte, war also absolut zeitpassend. Neuhoff hat Brittens Requiem schon mehrfach dirigiert, jetzt bot er mit dem wirklich fantastischen Bundesjugendorchester eine hochkompetente, klangbohrende Interpretation. Dem Kammerensemble stand Daniel Spaw souverän vor. Er ist derzeit am Theater Hof/Franken engagiert. Die Chöre, platziert auf den Rängen hinter dem Konzertpodium, sangen ohne Fehl und Tadel. Solches Pauschallob dürfte angemessener sein als eine sezierende Beurteilung
Bei den Solisten bestach Banu Böke mit jugendlich-dramatischen Sopran und sicherer Höhe (immerhin gibt es einige C’s zu bewältigen). Erik Sohn bot eine noble, lyrisch grundierte Stimme, über die auch James Gilchrist verfügt. Aber er raute seinen Gesang mit überaus plastischer Diktion auch immer wieder leicht auf – eine faszinierende Leistung.
Es darf auf keinen Fall die Erwähnung des umfänglichen Rahmenprogramms versäumt werden. Mehrere Schulen im Köln-Bonner Raum nahmen an einem Projekt teil, wo sie aufgefordert waren, sich zum Thema Krieg in künstlerischer Form zu äußern. Bei den offiziellen Veranstaltungen machte in der Trinitatiskirche ein Konzert über verfemte Musik im Nationalsozialismus den Anfang. Es folgte eine umfängliche Einführung in Brittens Requiem unter dem Titel „Abraham opfert Isaak und die Jugend Europas“, diverse musikalische und theologische Betrachtungen sowie eine Ausstallung von Kriegsfotografien. Allerhöchster Respekt für das gesamte Großereignis
Christoph Zimmermann (9.4.2018)
Bilder vom Bundesjugendorchester (c) Selina Pfruener