Berlin: „Chicago“, John Kander

Kein ganz Unbekannter ist in Berlin das Musical Chicago mit der Musik von John Kander, konnte man es doch bereits in den Jahren 1988, 1999 und 2015 im Theater des Westens sehen, in den Achtzigern mit besonders starträchtiger Besetzung, nämlich Katja Ebstein als Roxie, Gisela Uhlen als Mama Morton und Hans Clarin als Amos Hart. Die Vorlage zum Musical stammt allerdings schon aus dem Jahr 1926, als Chicago tatsächlich während der Prohibitionszeit sich einen Namen als Verbrecherhochburg gemacht und die Reporterin Maurine Dallas Watkins das kriminelle Damenduo auch künstlerisch zum Leben erweckt hatte, nachdem 1924 der Prozess um zwei Mörderinnen, die jeweils ihren Geliebten auf dem Gewissen hatten und die wohl dank ihrer Benutzung des Einflusses der Presse freigesprochen worden waren, Aufsehen erregt hatte. Fred Ebb und Bob Fosse schrieben das Libretto, und 1975 gab es in New York die Uraufführung, 1996 ein Revival, das es auch nach London und Wien schaffte. Viel Stress gab es um nur geplante oder auch in die Tat umgesetzte Verfilmungen des Stoffes, der 1927 einen Stummfilm ergab, 1942 eine Verfilmung des Musicals mit Ginger Rogers und 2001 nach vielen Querelen eine solche mit Renée Zellweger, Catherine Zeta-Jones und Richard Gere.

© Barbara Braun

Ex-Intendant Barrie Kosky hatte an der Komischen Oper mit dem Brauch gebrochen, alle Stücke in deutscher Sprache aufzuführen. Als Regisseur konnte er es sich wohl nicht vorstellen, selbst ein so ortsgebundenes Stück wie Chicago nicht in deutscher Sprache zu inszenieren und so bedient man sich im Schillertheater, dem neuen Domizil der Komischen Oper, der Übersetzung von Erika Gesell und Helmut Baumann.

Anders als Sally Bowles und Clifford Bradshaw aus Kanders Cabaret oder die aus derselben Zeit und der derselben Stadt stammenden Figuren von Billy Wilders Some like it hot können sich die beiden „Jazz-Schlächterinnen“ Roxie Hart und Velma Kelly, die mit Hilfe des Anwalts Billy Flinn und der Presse nicht nur dem Henker entrannen, sondern auch noch Karriere machen konnten, erst einmal nicht der Sympathie des Publikums erfreuen. Man mein manchmal, Chicago sei Mahagonny oder Mahagonny sei Chicago, so wenig liebenswert sind die Figuren durchweg, nicht die eines Musical, sondern, wie es auf dem Spielplan der Komischen Oper heißt, ein Musical-Vaudeville, ein Gemenge aus Varieté, Akrobatik und sonstiger Kleinkunst. Der einzigen noch halbwegs sympathischen, wenn auch haltlos schwachen Figur, dem gehörnten Gatten Roxies, wird so auch noch der musikalische Abgang verweigert, während die beiden ruchlosen Damen sogar noch das Publikum am Schluss in ihre üblen Machenschaften einbeziehen.

© Barbara Braun

Ein eiskalt glänzendes Stück erfährt im neuen Domizil der Komischen Oper, dem Schillertheater, eine eiskalt glänzende Umsetzung, perfekt in der schonungslosen Personenführung, die den Sänger-Schauspielern alles abfordert, perfekt im strahlend kalten Bühnenbild aus Tausenden von Lämpchen auf stählernen Gerüsten von Michael Levine, perfekt die Sex wie Erotik ausstrahlende Choreographie von Otto Pichler, nicht ohne die lasziven Herren, die zum Image der KO gehören, perfekt in den fein charakterisierenden Kostümen von Victoria Behr, und aus dem Orchestergraben ertönen unter der Leitung von Adam Benzwi mitreißende Jazzklänge.

© Barbara Braun

„Du musst „Ja!“ zu ihnen sagen…“ meint Barrie Kosky in Bezug auf die beiden Mörderinnen in einem Beitrag im Programmheft. Muss man nicht, aber wohl zu der Produktion, zu den Leistungen aller Beteiligten, die zudem noch mit Lust bei der Sache zu sein scheinen. Das beginnt, auch chronologisch, mit der Velma von Ruth Brauer-Kvam, die bereits mit ihrem Eingangsschlager That’s Jazz abräumen kann, wenn’s deftig wird, bayerische Laute nicht verleugnet und hinreißend bleibt, egal, ob sie sängerisch oder tänzerisch gefordert wird. Ihr nicht nach steht Katherine Mehrling, gerade zum sechsten Mal mit dem Publikumspreis Goldener Vorhang ausgezeichnet, die als blondes Biest von Roxie mit ab und zu Berlinern alle Register des Burlesken zieht. Beide Damen lassen ihre Vorgängerinnen aus dem Theater des Westens doch als recht harmlos erscheinen. Wie den Goldenen Zwanzigern entsprungen wirkt der Billy Flynn von Jörn-Felix Alt, wunderbar schmierig-elegant und den Sound optimal treffend. Ivan Turšić ist der bemitleidenswerte Gatte Amos Hart, für den er leider seinen hübschen Tenor nur wenig erklingen lassen kann. Andreja Schneider ist eine deftige Mama Morton, die ihrem Song alle möglichen Nuancen abgewinnen kann, Travestie darf nicht fehlen, und Hagen Matzeit ist eine so komische wie unsympathische Reporterin Mary Sunshine.

© Barbara Braun

Am Broadway läuft die Produktion von 1996 immer noch. Die der Komischen Oper hätte das Zeug dazu, ebenfalls jahrelang gespielt zu werden. Aber wir haben es zum Glück mit einem Opern-Repertoire-Theater zu tun.

Ingrid Wanja, 28. Oktober 2023


Chicago
Ein Musical–Vaudeville mit Musik von John Kander

Komische Oper Berlin im Schillertheater

Besuchte Premiere am 28. Oktober 2023

Regie: Barrie Kosky
Musikalische Leitung: Adam Benzwi
Orchester der Komischen Oper