Berlin: „Kurt-Weill-Liederabend“ mit Katharine Mehrling

Spät, aber zum Glück nicht zu spät ist Katharine Mehrling auf Kurt Weill gestoßen oder besser von Barrie Kosky gestoßen worden, und nun scheint er sie nicht mehr loszulassen. Nach dem Debüt mit dem Programm Lonely House mit dem damaligen Intendanten der Komischen Oper am Klavier, in dem die Pariser und New Yorker Lieder des Komponisten im Zentrum standen, gibt es nun ein Programm mit den Berliner Liedern, nachdem sich Mehrling  inzwischen Weill einige Male gewidmet hatte: Sie war Artist in Residence beim Kurt-Weill-Fest in Dessau, hat seine Sieben Todsünden auch im Berliner Konzerthaus gesungen und bestritt in Paris im Palais Beauharnais das Programm „Katharina Mehrling chante Kurt Weill“. Bei den Jüdischen Kulturtagen in Rostock sang sie ebenfalls Musik des jüdischen Komponisten.

Foto: Barbara Braun

Begleitete Barrie Kosky die Sängerin 2019 noch am Klavier, so leitet er nun als Regisseur die abendfüllende Weill-Show, während Kai Tietje nicht nur am Dirigentenpult der Komischen Oper steht, sondern auch verantwortlich ist für die Instrumentierung der  Lieder, die durchaus nicht nach den Goldenen Zwanzigern klingen, sondern ,nicht zuletzt durch die Wahl der   Instrumente wie Bandoneon oder armenischer Flöte, über die Grenzen Europas hinaus weisen. Und auch die Rhythmen wie der Tango oder Gattungen wie der Jazz waren zu Weills Zeit in Europa noch nicht gang und gäbe und erleichtern es dem Sopran, seinen ganz eigenen Stil zu finden und macht es ihm auch leichter, sich vom Einfluss der Künstlerinnen zu befreien, die für authentischen Weill-Gesang stehen wie Lotte Lenya natürlich, aber auch Milva, May  oder Lemper.

Mit Erstaunen und Beglückung stellt man fest, dass es den Mehrling-Stil eigentlich gar nicht gibt, sondern dass die Sängerin aus dem jeweiligen Text und der jeweiligen Musik heraus den ganz speziellen Stil entwickelt, der ideal zu diesen passt und der jeweils allein mögliche zu sein scheint. So setzt sie für den Salomon-Song zu Beginn nach einer seidenweichen Einstimmung durch das Orchester eine frische Mädchenstimme ein, ist trotz maßvollen Stimmeinsatzes ungeheuer eindringlich in Und was bekam des Soldaten Weib, kindlich im Lied vom blinden Mädchen und hat unendlich viele Schattierungen für „nimm doch die Pfeife aus dem Mund“. Den überbekannten Songs aus der Dreigroschenoper und Happy End gewinnt Mehrling ganz neue und immer wieder neue Facetten ab, und die Seeräuber Jenny wurde noch nie so schön, aber auch noch nie so nuancenreich gesungen.

Ganz ohne Partner geht es nicht, auch wenn Michael Fernandez stumm bleibt, aber doch als Drag Queen, als Menschenaffe und in allerlei anderer Gestalt dazu beiträgt, dass aus Gesangsnummern kleine Dramen werden. Dazu kommt die Komparserie der Komischen Opern, oft mit Riesenköpfen bewehrt, und den Zwanzigern wird auch damit die Reverenz erwiesen, dass ungeheuer viel geraucht wird.

Foto: Barbara Braun

Karg, aber besonders mit den vielen Türen, durch die die unzähligen Hände ins Leere greifen, eindrucksvoll ist die Bühne von Klaus Grünberg, Victoria Behr hat die Kostüme zwischen Nuttenfummel und Arme-Leute-Dress entworfen, und Barrie Kosky hat nicht nur Katharine Mehrling dazu überredet, sich auf das Experiment einzulassen, sondern auch eindringliche Kleinstdramen auf die Bühne der Komischen Oper nicht gewuchtet, denn dazu atmen diese Szenen neben aller Schärfe, die ihnen innewohnt, zu viel herben Charme, sondern sie einfach lebendig werden lassen. Das Orchester beweist seine Fähigkeit, sich auf viele unterschiedliche Stile gleichermaßen kompetent einzustellen, und da die Stimme sehr verstärkt wird, kann von ihrer Gefährdung nicht im Geringsten die Rede sein.

Es gibt noch sechsmal die Möglichkeit, diesen Abend zu erleben.

Ingrid Wanja, 26. März 2023 


Kurt Weill

„…und mit morgen könnt ihr mich!“

Komische Oper Berlin

Besuchte Premiere am 26. März 2023

Inszenierung: Barrie Kosky

Musikalische Leitung; Kai Tietje