Radebeul: „Radebeul-Festival Finale“, Nino Rota und Antonio Vivaldi

Das Final-Konzert des diesjährigen Radebeul-Festivals fand am 8. September 2024 in den Räumlichkeiten des „Historischen Güterbodens am Bahnhof Radebeul Ost“ statt. Der im Jahre 1899 für die Güterabfertigung erbaute Gebäudekomplex wurde am Beginn des neuen Jahrtausends zu einem Veranstaltungsort, der zugleich historische Dampflokomotiven und Fahrzeuge der Lößnitzgrund-Schmalspurbahn beheimatet, umgestaltet. Für die Sanierung, die in harmonischer Weise stilvoll Tradition und Innovation verband, erhielten die Architekten den Bauherrenpreis 2006. Der Historische Güterboden ist Teil des „Kulturdenkmals der Lößnitzgrundbahn“. Der Veranstaltungsraum ist eine 800-Quadratmeter-Halle mit einer Höhe von 4,7 Metern und bietet bis zu 533 Personen Platz. Wir haben im Vorderbereich der lang gestreckten „Schuhschachtel“ ausgezeichnet hören können. Leider kann ich die Klangentwicklung in den letzten Reihen nicht beurteilen. Der Veranstalter hatte aus guter Vorsicht zwischen den vor der Rückwand aufgestellten drei rekonstruierten Schmalspur-Dampflokomotiven eine größere Fläche nicht bestuhlt.

© Patrick Böhnhard

Den meisten unserer Zeitgenossen ist der Komponist Giovanni Rota (1911-1979) genannt „Nino Rota“ lediglich durch seine Musikbegleitung zahlreicher Filme Federico Fellinis (1920-1973), Luciano Viscontis (1906-1976), Franco Zeffirellis (1923-2019) sowie Francis Ford Coppolas bekannt. Mit seinem Namen verbinden sich Welterfolge, wie „Der Pate“, „Der Leopard“, „La Strada“, „La dolce vita“. Dabei hatte Rota außerdem drei Symphonien, drei Klavierkonzerte, drei Violinkonzerte, zehn Opern, 23 Bühnen- und Ballettkompositionen sowie Chorwerke einschließlich eines umfangreichen Kammermusik-Schaffen hinterlassen. Auch Konzerte für Kontrabass, Fagott, Posaune, Harfe gehören zu seinen Werken. Seine Erfolge im Filmgeschäft verdankte Nino Rota vor allem seiner außergewöhnlichen Fähigkeit als Improvisator. Mit seiner ausgeprägten Flexibilität und überragenden Fantasie konnte er in kürzester Zeit auch die ausgefallensten Wünsche der Regisseure musikalisch erfüllen. Da die von Nino Rota für das Kino komponierten Melodien zwangsläufig an den Filmhandlungen klebten, können sie kaum musikalischen Stilrichtungen zugeordnet werden, auch wenn sie, ob ihrer Eingängigkeit inzwischen als eine Form der Gebrauchsmusik genutzt werden. Aber auch mit seinen Tonschöpfungen abseits der Bindung an die Bildsprache bediente sich Rota ungeniert und ziemlich wild der Stilmittel der Musikgeschichte von der Barockzeit bis in die Gegenwart. Mittels Leitmotiv-Techniken sowie opernhafter Rhetorik sprach er große Gefühle an und nutzte die suggestive Wirkung versteckter musikalischer Erlebnisse seiner Hörer. Als ein besonderes Beispiel gilt das als Auftakt des Final-Konzertes des Radebeul-Festivals 2024 vom „Festivalorchester“ dargebotene „Concerto per archi“. Nino Rota hatte es in den Jahren 1964 und 1965 im Auftrag des italienischen Kammerorchesters „I Musici“ geschrieben und 1977 einer Revision unterzogen. Die aus Stipendiaten der Anne-Sophie-Mutter-Stiftung und der Deutschen Stiftung Musikleben gebildete Streicher-Formation gestaltete die erzählerische Kraft und den Umgang Rotas mit den Harmonien besonders eindringlich. Traum-Assoziationen und unerwartete Abdunkelungen bei der Melodienbildung erwiesen sich als wirkungsvoll. Mit Klangschönheit gaben die Musiker den Klängen Rotas ein Höchstmaß an Vitalität, ohne es an Ausdruckskraft, Spannung und kommunikativer Energie fehlen zu lassen. Das Scherzo wurde nicht mit Pracht ausgestaltet, sondern in einer Art ausschweifender Trunkenheit ausgespielt.

Im virtuosen, sehr fröhlichem Finale wurde Nino Rotas gewaltiger Spagat zwischen den Anklängen an Johann Sebastian Bachs (1685-1750) Air, den italienischen Elementen des 18. Jahrhunderts, der deutscher Romantik des 19. und den früh-avantgardistischen Zügen der neueren Zeit von den Streichern glänzend bewältigt. Da waren die Musiker schon in der Nähe von Prokofiev und Schostakowitsch angekommen.

Im Anschluss erhielten wir vom Vertriebsleiter des renommierten Auktionshauses Ingles & Hayday Rainer Michael Cocron einen Einblick in die Welt des Handels mit den wertvollsten Musikinstrumenten. Der aus Salzburg stammende studierte Violinist absolvierte mehrere Praktika bei namhaften Musikinstrumentenbauern und hat sich neben seiner Konzert-Tätigkeit umfangreiches Wissen bezüglich der Authentifizierung und Bewertung von Streichinstrumenten angeeignet. Mit seinen inzwischen reichen Erfahrungen hilft er dem Auktionshaus seit dem Jahre 2016 mit seiner Expertise, den Ruf als ein nach ethischen Grundsätzen agierender, ehrlicher Geigenhändler zu sichern.

In seinem Vortrag erläuterte Cocron zunächst, wie sich der Streichinstrumenten bau in Italien auch als Wechselwirkung mit den Ansprüchen der Musikschaffenden entwickelt hatte und gab Beispiele hervorragender Interpreten und außergewöhnlicher Instrumente. Auch der Sinn und Unsinn von Sammlungen hochwertiger Instrumente war Thema. Schockierend waren für uns Normalbürger seine Beispiele, zu welchen Höhen sich inzwischen die Preise beim Handel der Spitzen-Klangwerkzeuge entwickelt haben. Seine Einblicke in die modernen Methoden seiner Arbeit, wie mit den trochronologischen Werkzeugen über die Jahresringe der Holzteile exakte Zuordnungen von Geigen möglich geworden sind. Der Ausblick über die Anwendungen von künstlicher Intelligenz zur „Entzauberung der alten Geigenbauer“ und zur Erschließung von Potenzial für den modernen Instrumentenbau kam dann fast zu kurz.

Im zweiten Teil des Konzertes folgten  dann Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“:

Der Italiener Antonio Vivaldi (1678-1741) gehörte zu den wenigen Menschen, die scheinbar mühelos neue Tonschöpfungen gestalten konnten und dabei eine unwahrscheinliche Arbeitsintensität entwickeln. Mit seiner unerschöpflichen Klangphantasie und Kombinationsgabe schuf er über 50 Opern und 393 Konzerte für die unterschiedlichsten Instrumenten-Kombinationen.

Die vier Konzerte für Solovioline, Streichorchester und Cembalo „Le Quattro Stagioni“, die vier Jahreszeiten, hat er möglicherweise ohne besonderen Anlass und aus einer Laune heraus geschrieben. Um das Jahr 1725 versah er jedes der vier Konzerte mit einem programmatischen Sonett und packte sie mit weiteren acht Kompositionen in eine Zusammenstellung „Il cimento dellʼarmonia e dellʼinventione“, die Bewährungsprobe von Harmonie und Erfindung. Als eine Art Bewerbung als „Maestro di Musica in Italia“ schickte er die Sammlung an den böhmischen Grafen Wenzel von Morzin, der ein eigenes Orchester unterhielt. Vivaldis Komposition entsprach der damals in der höfischen Gesellschaft verbreiteten Naturmode, so dass „die vier Jahreszeiten“ rasch eine Verbreitung fanden. Mit ihrer Charakteristik der vier Jahreszeiten gehören Vivaldis Konzerte eindeutig zu den „Invenzionen“. Erfindungsreicher hat kein Komponist die Szenerie jeder der Jahreszeiten in Tönen gefasst. Von der Klangkulisse der Natur, den Vogelstimmen, dem Donnergrollen, den jahreszeitlichen Vergnügungen bis zu den Wirkungen extremer Temperaturen von Sommer und Winter auf die Menschen ist alles erfasst. Obwohl sich Johann Sebastian Bach (1685-1750) intensiv mit dem Schaffen Vivaldis beschäftigt hatte und sich von dessen Kompositionen auch anregen ließ, waren Vivaldis Arbeiten über lange Zeit nur wenig im Konzertleben zu finden. Erst in den 1920-er Jahren erschloss sich die Musikwelt Vivaldis Genius wieder. Inzwischen gibt es nur wenige Musikstücke, die durch unzählige freie Zugangsweisen derart bereichert, aber auch entstellt worden sind, wie Antonio Vivaldis populäre vier Konzerte op. 8 1-4 „Le quattro Stagioni“. So etwas wäre aber für Albrecht Menzel und seine Freunde nie in Frage gekommen.

© Patrick Böhnhard

Für die Darbietung des populären Vivaldi-Werkes war um den Solisten Albrecht Menzel mit seiner Stradivari „Lady Hallè/Ernst“ das uns bereits bekannte Solisten-Ensemble mit wundervollen, zum Teil namhaften Instrumenten, gruppiert worden. Mit einer Violine aus einer der Werkstätten Giovanni Battista Guadagnini (1711-1786) war Julia Turnovsky nach Radebeul gekommen. Mira Foron spielte eine Violine des Mailänders Carlo Giuseppe Testoa von 1710. Die Gruppe der Violinen bereicherten Michael Zakharov und der Geigen-Experte Rainer Michael Cocron. Die Viola Hwayoon Leeʼs, 1865 in der Werkstatt Jean Baptiste Vuillaume (1798-1875) gefertigt, gehört zu jenem legendären Streichinstrumenten-Quartett, dass der Dirigent Graf Alexander Dmitriewitsch Scheremetjew (1859-1931) vom Pariser Instrumentenbauer erworben hatte. Der Cello-Part war von Simone Drescher mit ihrem um 1700 von der Mailänder Werkstatt des Giovanni Baptista Grancino gebautem Instrument übernommen. Der aus Rumänien stammende Kontrabassist der Sonderklasse Arthur Popescu und der bei Vivaldi-Einspielungen bereits mehrfach erfolgreiche Norweger Knut Johannessen komplettierten das Ensemble.

Sie loteten mit einer geradlinigen Interpretation die Tiefe der Vivaldi-Komposition auch jenseits ihrer Ohrwürmer auf wunderbare Weise aus.

Mit ihrem expressiven Spiel scheute die Solistin des „Frühlings“ Julia Turnovsky kein Risiko und begann kraftvoll. Ihre Musiker-Partner blieben ihr in keinem Augenblick etwas schuldig und hoben den Frühling mit klanglichen Kontrasten zwischen den Violinen, aber auch mit dem üppigen mit Verzierungen versehenen Cembalo-Einsatz an. Erst im mittleren, ruhigen Verlauf des Mittelsatzes kam es mit dem Frühlingsschlummer des Hirten zu Einbrüchen quirliger Tonfolgen. Die Violinen-Soli waren virtuos und lebendig, was die fröhliche Stimmung und das Zwitschern der Vögel perfekt vermittelte.

Der Sommer bestach durch die Vielfalt der Klangbilder. Der erste Satz spiegelte die lähmende Hitze eines Sommertages wider, während der Mittelsatz mit gewaltigen Ausbrüchen von Blitz und Donner aufwartete. Die Solistin des „Sommers“ Mira Foron meisterte hervorragend die anspruchsvollen Passagen der Annäherung des Unwetters während das Volumen ihrer Musikerfreunde mit der gewaltigen Darstellung des folgenden Sommergewitters beeindruckte.

Der Herbst war von der Solovioline Rainer Cocrons gemeinsam mit den  Musikern zum ausgelassenen Fest der Freude gestaltet worden. Die tänzerischen Rhythmen und die lebhaften Melodien eines Erntefestes waren mitreißend. Doch der beim Fest genossene Wein zeigte seine Wirkung: der süße Schlummer im Mittelsatz wartete mit glänzenden Akkordbrechungen des Cembalos auf. Voller Energie gestaltete im dritten Satz des Herbstes die Gesamtheit der Musiker mit knallig betontem Rhythmus die Darstellung der Jagdszenen.

Beim Wintereinbruch geriet der Tutti-Klang schließlich mit seinen Zitaten brüchigen Eises ins Extreme. Die staccato Noten des „Winter-Solisten“ Albrecht Menzel im ersten Satz erinnerten an zitternde Kälte und die Brutalitäten des Winters. Den Kontrast bildete der zweite Satz mit der Wärme eines gemütlichen Abends am Feuer, während der dritte Satz das Konzert dramatisch mit eisigen Winden und rutschigen Straßen lebendig abschließen ließ.

Begeisternd, wie scharf Albrecht Menzel mit seinen Musiker-Freunden die kleinteiligen Verläufe der Vivaldi-Komposition zeichneten und mit welcher Konsequenz sie das Mosaik wieder zu einem Ganzen fügten.

Thomas Thielemann, 10. September 2024


Großes Finalkonzert des Radebeul Musikfestivals „Albrecht Menzel & Friends“ der Saison 2024

Historischer Güterboden des Bahnhofs „Radebeul-Ost“

8. September 2024

Solistenensemble mit Stipendiaten der Anne-Sophie-Mutter-Stiftung und der Deutschen Stiftung Musikleben
Künstlerische Leitung: Albrecht Menzel
Vortrag: Rainer Michael Cocron