Am 18. November 2023 erfüllte die gewaltige „Auferstehungs-Sinfonie“ von Gustav Mahler die ehrwürdigen Mauern der neugotischen Marktkirche in Wiesbaden. Unter der souveränen und enthusiastischen Leitung von Thomas Jörg Frank wurde dieses Konzert zu einem unvergesslichen Erlebnis für die gut 250 Mitwirkenden und das ergriffene Publikum.
Mahlers monumentale Sinfonie, die berühmte „Auferstehungsinfonie“, in einer Kirche aufzuführen, mag zunächst als gewagtes Unterfangen erscheinen. Doch sämtliche Bedenken erwiesen sich als gegenstandslos, als das zahlreich erschienene Publikum Zeuge einer schlichtweg spektakulären Darbietung wurde – ein wahres Mahler-Wunder! Dies ist vor allem dem Initiator und herausragenden Dirigenten des Abends, Thomas Jörg Frank, zu verdanken. Frank ist ein Multitalent (Kantor, Dirigent und Komponist) und offenbarte auf eindrucksvolle Weise seine leidenschaftliche Hingabe zu Gustav Mahler. In einem Gespräch mit dem Verfasser dieser Zeilen enthüllte er, dass die Aufführung der zweiten Sinfonie für ihn ein lang gehegtes Herzensprojekt war. Sein tiefes Verständnis für den spirituellen Gehalt des Werkes, insbesondere für den finalen Ausspruch „Sterben werd` ich, um zu leben“, spiegelte sich in einer äußerst beeindruckenden Interpretation wider. Als Visionär und Pionier scheute Frank keinerlei Mühen, um Mahlers Meisterwerk in der Marktkirche zum Leben zu erwecken.
Der majestätische sakrale Raum, kunstvoll illuminiert, trug maßgeblich dazu bei, die Begegnung mit Mahlers Sinfonie zu einem ergreifenden Moment zu gestalten. Der Klang, der sanft und von allen Seiten strömte, erfuhr durch die geschickte Anordnung von Chor und Fernorchester eine beeindruckende Verstärkung. Durch ausgedehnte Probenarbeit in Wiesbaden und Tschechien vermochte Frank, die Welt Mahlers auf eindringliche Weise heraufzubeschwören und das Publikum mit auf eine fesselnde Reise durch Abgründe und Gipfelpunkte zu nehmen. Die Akustik, dank der dicht besetzten Reihen, erwies sich als besonders herausragend, ohne übermäßig nachzuhallen. Jedes Detail war in sämtlichen dynamischen Nuancen klar vernehmbar. Die Fernmusik war exzellent platziert, und als beim finalen „Aufersteh’n, ja aufersteh’n“ ein zusätzlicher Chor (Schiersteiner Kantorei) von der Orgelempore mit rund 50 Sängerinnen und Sängern den gewaltigen Chor, der von vorne sang, verstärkte, erreichte das Glück Mahlers seinen Höhepunkt, und die Zuhörer konnten sich in einem klanglichen Aufstieg in den Himmel wiederfinden.
Thomas Jörg Frank studierte die Partitur mit akribischer Genauigkeit, befolgte Mahlers Anweisungen genau und scheute keine Extreme. Mahlers Musik ist nicht „bequem“, und Frank verstand es, die breite Gefühlsskala des Komponisten äußerst ausdrucksstark zu interpretieren. Intensive Ruhepunkte wechselten sich mit bombastischen Steigerungen ab, wobei Frank geschickt die Dynamik lenkte und die Emotionen der Zuhörer gezielt aufbaute. Mahler setzte in dieser Sinfonie ein großes Orchester ein, wobei er die Klangpalette erweiterte und besondere Aufmerksamkeit auf die Blechbläser legte. Thomas Jörg Frank verstand es, diese reiche Instrumentierung ausdrucksstark zu nutzen, wodurch die Charakteristik der einzelnen Instrumentengruppen transparent herausgearbeitet wurde. Mahlers zweite Sinfonie ist geprägt von extremen Tempowechseln und dynamischen Kontrasten. Frank bewies ein tiefes Verständnis für Mahlers Absicht, indem er die verschiedenen Facetten der Sinfonie mit subtilen Nuancen und expressiver Gestaltung hervorhob. Fabelhaft, wie treffsicher ihm die Übergänge gelangen. Insgesamt wählte er gemessene Tempi, was die Dimension dieses Meisterwerks deutlich erweiterte.
Der Auftakt mit dem „Totenfeier“-Satz war eine aufrüttelnde Einführung in Mahlers Welt des Todes und der Trauer. Das Orchester setzte mit einer kraftvollen Interpretation ein starkes Zeichen. Die Klänge der Blechbläser verschmolzen mit den düsteren Streicherpassagen, während die Holzbläser individuelle Akzente setzten. Die dynamischen Kontraste wurden meisterhaft herausgearbeitet, wobei das Orchester von leisen, introspektiven Momenten zu äußerst gewaltigen Ausbrüchen überging. Besondere Erwähnung verdienen die Solisten des Orchesters, insbesondere die klagenden Melodien der Holzbläser und die markanten Beiträge der Blechbläser, die den Totenreigen mitreißend gestalteten. Selten ist eine Aufführung dieses Werkes zu hören, bei der die dynamischen Extreme derart ausgereizt zu erleben sind. Danach realisierte Frank die von Mahler gewünschte minutenlange Pause.
Der zweite Satz, führte das Publikum in eine Welt des Gemächlichen, ohne Eile. Hier brillierte das Orchester unter der Leitung von Frank mit einer präzisen Umsetzung der rhythmischen Komplexität dieses Satzes. Dabei traten die lichten Streicher mit ihrer Transparenz in den Vordergrund. Die Holzbläser setzten mit spielerischer Leichtigkeit die passenden Farbtupfer, während die Streicher einen lebendigen, tänzerischen Charakter verliehen. Das Orchester schaffte es, die grotesken und zugleich lyrischen Elemente dieses Satzes gekonnt in Szene zu setzen.
Der dritte Satz, in ruhig fließender Bewegung, führte das Publikum in eine Welt der Überraschungen und grotesken Effekte. Frank verstand es, die orchestrale Farbigkeit dieses Satzes zu nutzen, wobei die Holzbläser mit ihren Charakterfarben und die strahlenden Trompeten herausragten.
Der vierte Satz, Urlicht, wurde durch die beeindruckende Alt-Solistin Silvia Hauer mit einer klaren, warmen Klangfarbe bereichert. Die Kombination aus Solistin und Orchester schuf eine besondere Dimension, die den Satz zu einem besonderen Höhepunkt machte. Dabei traf Hauer traumwandlerisch sicher einen tief empfundenen Herzenston in ihrem Gesang.
Das Finale, der fünfte Satz, war zweifellos der Höhepunkt des Konzerts. Die Kombination aus triumphalem Scherzo-Tempo, wildesten Ausbrüchen, zurückhaltenden Momenten und einer mysteriösen Atmosphäre prägte diesen Abschluss. Der Chor, verstärkt durch extra aus München beschaffte Glocken, trat mit beeindruckender Größe und großer Klangfülle auf. Die Ostböhmische Staatsphilharmonie unterstrich mit kraftvoller Dynamik und feinfühliger Ausgewogenheit die dramatischen Wendungen dieses Satzes. Besonders beeindruckend waren auch hier die Sololeistungen von Silvia Hauer (Alt) und Betsy Horne (Sopran) im strahlenden Finale. Ihre Stimmen verschmolzen harmonisch und fügten sich nahtlos in das klangliche Gesamtbild ein. Als dann im Schlussteil die gut 150 Chorsängerinnen und -sänger (Chor der Marktkirche Wiesbaden, Mitglieder des Chores der Stadt Wiesbaden und die Schiersteiner Kantorei) zusammen mit der majestätischen Orgel, herrlich gespielt von Manuel Pschorn, mit dem wunderbaren Orchester das finale „Aufersteh’n“ zelebrierten, entstand eine unwiderstehliche spirituelle Energie, die einem Versprechen gleich kam!
Die Ostböhmische Staatsphilharmonie Hradec Králové verdient besonderes Lob für ihre authentische Darbietung des Mahlerschen Klangbildes. Dieses Orchester besitzt einen ganz eigenen Klang, der warm und kraftvoll ist. Die Durchsichtigkeit der Haupt- und Nebenstimmen war transparent, die Tutti-Entladungen erklangen herrlich offensiv und kraftvoll. Blechbläser und Schlagzeuger setzten glanzvolle Akzente, während die Holzbläser vielfältige Charakterfarben beisteuerten. Es war schon verblüffend, wie souverän und klang intensiv dieses Orchester der Komposition alle Ehre gab. Gustav Mahler hätte an der Spielfreude und Hingabe dieses Orchesters seine Freude gehabt! Die Chöre überzeugten mit großem Engagement, dynamischer Disziplin, klarer Textverständlichkeit und sicherer Intonation.
In diesen turbulenten Zeiten erwies sich das Konzert als eine intensive Trosterfahrung, die zu Recht mit Jubel und stehendem Applaus bedacht wurde. Thomas Jörg Frank und alle Mitwirkenden schufen ein musikalisches Erlebnis, das die Zuhörer zutiefst berührte und beglückte. Es wird lange in Erinnerung bleiben. Die beeindruckende Interpretation von Mahlers Meisterwerk durch Frank und das Orchester verlieh dem Konzert einen Hauch von Wunder. Diese musikalische Reise durch die Sinfonie führte die Zuhörer durch tiefgründige emotionale Landschaften, von der düsteren Verzweiflung bis hin zur triumphierenden Auferstehung. Jede Note und jedes Crescendo zeigte die Meisterschaft und Hingabe, die in das Konzert eingeflossen war. Die „Auferstehungs-Sinfonie“ wurde unter Franks Leitung nicht nur zu einem musikalischen Höhepunkt, sondern auch zu einem kraftvollen spirituellen Erlebnis. Mahlers Musik durchdrang die Herzen der Zuhörer und vermittelte eine Botschaft der Hoffnung und des Trostes inmitten der Herausforderungen unserer Zeit. Die Wahl dieses epischen Werks in diesem Kontext erwies sich als künstlerischer Geniestreich, der die Tiefe und Vielschichtigkeit von Mahlers Komposition in den Fokus rückte. Das harmonische Zusammenspiel von Orchester und Dirigent schuf eine Atmosphäre, die die Grenzen des Konzertsaals überwand und die Zuhörer auf eine transzendente Reise mitnahm. Die außergewöhnliche Klangqualität und das feinfühlige Zusammenspiel aller Beteiligten trugen dazu bei, dass die Musik nicht nur gehört, sondern geradezu erlebt wurde. Dieses Konzert war zweifellos eine wunderbare Erfahrung in der Welt der klassischen Musik, die nicht nur die Kunst feierte, sondern auch eine emotionale Resonanz erzeugte, die weit über den Konzertsaal hinausreichen wird. Das prachtvolle Geläut der Marktkirche erschallte beim Auszug und begrüßte die glücklichen Besucher dieses denkwürdigen Abends. Auf diese Weise hallte der Gedanke der Auferstehung weit durch die Stadt Wiesbaden.
Dirk Schauß, 19. November 2023
Konzert in der Marktkirche
Wiesbaden
am 18. November 2023
Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 2
Ostböhmische Staatsphilharmonie Hradec Králové
Thomas J. Frank, Leitung