Wiesbaden, Konzert: „Beethoven, Rachmaninow, Tschaikowsky“, Orchestra della Svizzera italiana unter Markus Poschner

Am Abend des 19. Aprils gastierten im Kurhaus Wiesbaden im Rahmen der Wiesbadener Meisterkonzerte renommierte Künstler mit einem beeindruckenden Programm. Unter der Leitung von Markus Poschner präsentierte das Orchestra della Svizzera italiana (OSI) aus Lugano eine eindrucksvolle Auswahl von Werken, die von der dramatischen Intensität Beethovens über die lyrische Schönheit Rachmaninows bis hin zur mitreißenden Emotion Tschaikowskis reichten.

© Ansgar Klostermann

Beethovens Faszination für Goethes Trauerspiel Egmont manifestierte sich in einer Schauspielmusik, die erstmals im Jahre 1810 erklang. Die Ouvertüre, von wuchtiger Düsternis geprägt und dennoch in einem Triumph des Lichts endend, zählt zweifelsohne zu den Höhepunkten seines Schaffens. Bei dem Meisterkonzert mit dem OSI unter der Leitung von Markus Poschner eröffnete dieses Werk den Abend auf überaus überzeugende Weise. Poschner setzte mit kraftvoller Präsenz seine Energie in die rauen Auftaktakkorde, und was folgte, war ein zehnminütiges Kurzdrama von eindringlichster Wirkung. Unter der scharfen, unnachgiebigen Interpretation von Poschner erwuchs Beethovens Musik zu einem zeitlosen Bekenntnis, das den Saal durchdrang.

Nach einer Nacht des Kampfes kehrte die Zuversicht zurück – die Trompeten schmetterten ihre glanzvollen Siegesfanfaren im Verein mit der sehr markanten Piccoloflöte. Das OSI zeigte bereits hier seine ganz besonderen Qualitäten. Ein Klangkörper, der sehr aufmerksam miteinander musizierte. Alles wirkte an diesem Abend aus einem Guss. Besonders bemerkenswert war die Sonorität des Orchesters. Bei eher kleiner Streicherbesetzung (10 erste Violinen, 5 Celli, 4 Kontrabässe) ergab sich eine Tonstärke, die eher an eine doppelt so große Anzahl der Musiker denken ließ.

Markus Poschner zeigte sich als Dirigent, der tief in die Partitur hineinhorchte, um alle Beziehungen der Instrumentengruppen auszuloten, um diese in ein empfundenes Miteinander zu führen. Dies gelang vortrefflich und so gab es in drei vorgetragenen Werken zu keinem Zeitpunkt eine Vordergründigkeit. Zu hören waren die Musik, die hinter den Noten steht, wie Gustav Mahler es sich immer wünschte. Die Komposition des hochgelobten Klavierkonzerts Nr. 2 von Sergej Rachmaninow erscheint wahrlich als ein Wunder. Als seine von ihm besonders geschätzte erste Sinfonie bei der Uraufführung ein katastrophales Fiasko erlebte, durchlitt Rachmaninow ein zutiefst traumatisches Ereignis, das in einer langanhaltenden Schaffenskrise mündete. Über vier Jahre lang vermochte er keine einzige Note zu Papier zu bringen, während tiefe Depressionen und seelische Qualen seinen Alltag bestimmten. Eine entscheidende Rolle spielte dabei sein behandelnder Arzt, Dr. Dahl. Dieser erwies sich als Glücksfall für Rachmaninow, denn Dahl war nicht nur ein erfahrener Psychoanalytiker, sondern auch ein versierter Kenner der Musik. Überlieferte Zitate belegen, dass Dahl Rachmaninow in zahlreichen hypnotischen Sitzungen immer wieder suggerierte, dass er ein neues, herausragendes Klavierkonzert erschaffen werde. Tatsächlich trat dieses Ereignis ein, als Rachmaninow im Sommer 1900 mit der Komposition seines zweiten Klavierkonzerts begann. Im darauffolgenden Jahr fand im Oktober die Uraufführung statt, bei der der Komponist selbst am Klavier saß. Endlich war ihm der große internationale Durchbruch gelungen, und Rachmaninow erfuhr eine vollständige Rehabilitierung.

© Ansgar Klostermann

Der Beginn des Konzerts ist wahrlich beeindruckend! Acht anschwellende Klavierakkorde, wie schwere Glockenschläge, eröffnen das Werk und werden dann von einem opulenten Cantabile der Streicher aufgegriffen. Rachmaninow schuf ein Meisterwerk voller eingängiger Melodien, das jedoch immense Anforderungen an den Solisten stellt, sowohl in Bezug auf Virtuosität als auch auf die Balance zwischen Klavier und Orchester. Als besondere Solistin konnte die einzigartige Anna Vinnitskaya gewonnen werden. Eine Meisterin am Klavier, die nicht nur ein musikalisches Feuerwerk entfachen kann, sondern auch in der Lage ist, mit ihren Klängen große tonale Gemälde zu gestalten. Geboren wurde sie in Russland, wo sie schon in jungen Jahren ihre außergewöhnliche Begabung für die Musik zeigte. Ihre Virtuosität ist nie Selbstzweck, sondern stets ein Mittel zum Ausdruck. Durch ihre Gestaltungskraft und klangliche Nuancierung verleiht sie ihrer Musik eine ganz besondere Tiefe. Unter der Anleitung ihres Lehrers Evgeni Koroliov lernte sie nicht nur die Technik des Klavierspiels, sondern auch, die Musik zu lieben und aus dem Bauch heraus zu spielen. Das Ergebnis ist ein wahrhaftiges Naturereignis am Klavier, das Spiellust, Detailverliebtheit und interpretatorische Raffinesse vereint. Schon in jungen Jahren errang sie internationale Anerkennung, als sie mit nur zwölf Jahren ihren ersten internationalen Wettbewerb gewann. Ihr endgültiger Durchbruch gelang ihr jedoch mit dem Sieg beim renommierten Concours Reine Elisabeth Wettbewerb 2007 in Brüssel. Seitdem hat sie als Solistin mit den bedeutendsten Orchestern und Dirigenten weltweit konzertiert. Ihre Interpretationen zeugen von einer einzigartigen Fusion aus technischer Perfektion und emotionaler Tiefe. Dabei ist sie insbesondere als Spezialistin für die Musik ihres Landsmanns Sergei Rachmaninow bekannt, dessen Werke sie mit Brillanz und stupender Technik zum Leben erweckt. Im Jahr 2009 wurde sie zur Professorin für Klavier an der Musikhochschule Hamburg berufen, wo sie ihr profundes Wissen und ihre Leidenschaft für die Musik an die nächste Generation weitergibt. Die Aufnahmen von Anna Vinnitskaya wurden mit zahlreichen renommierten Preisen wie dem Diapason d’Or, der Gramophone Editor’s Choice und dem ECHO-Klassik ausgezeichnet. Ihre musikalische Reise geht weiter, und ihr Spiel bleibt eine Quelle der Inspiration und der pianistischen Verzauberung auf höchstem Niveau.

Das Konzert eröffnete mit den berühmten glockenartigen Klavierakkorden, die Vinnitskaya mit mächtiger Dynamik gestaltete. Dieser Auftakt wurde von einem kraftvollen und präzisen Einsetzen des Orchesters in das herrliche Streicherthema aufgegriffen. Die Melodie führte nahtlos in Vinnitskayas Interpretation des Klavierthemas ein, das sie mit unglaublicher Virtuosität und großem Feingefühl darbot. Ihre Finger glitten über die Tasten, als hätten sie eine intime, sehr innige Verbindung zum Klavier. Ihr Spiel war von deutlichen Emotionen erfüllt, und sie ging in jeder Note auf. Ihre Darbietung des Klavierkonzerts war in der Tat außergewöhnlich. Sie spielte mit solcher Stärke und Hingabe, dass es unmöglich war, sich ihrem Spiel zu entziehen. Jede Note war perfekt gesetzt, und ihre Virtuosität war atemberaubend. Vinnitskayas Vortrag war sowohl einfühlsam als auch vital, und sie vermochte es, das Publikum in jedem Moment des Konzerts zu fesseln. Besonders bewegend war ihre Interpretation des berühmten Adagio-Satzes. Vinnitskaya spielte diesen Satz mit einer Intensität und einer erstaunlichen Fähigkeit, die Melancholie und Traurigkeit der Musik auszudrücken. Ihre Gabe, die langen, fließenden Melodien von Rachmaninow so lebendig und berührend zu interpretieren, war zutiefst anrührend.

Welch ein Kontrast dann im furiosen Finale! Brausende Klangwirkungen von Vinnitskaya im Verein mit dem hinreißenden Orchester ergaben einen euphorischen Abschluss, sodass das Publikum sehr begeistert reagierte. Das OSI und sein Dirigent Markus Poschner boten eine hervorragende Begleitung für Vinnitskayas Klavierspiel. Das Orchester und die Solistin waren perfekt aufeinander abgestimmt, und ihre Zusammenarbeit war nahtlos.  Poschners Interpretation des Stücks war raffiniert und präzise, und er führte das Orchester mit sicherer Hand durch jede Phase des Konzerts. Großer Jubel und eine heftig beklatschte Zugabe (Skrjabin – Walzer f-moll Op. 1).

© Ansgar Klostermann

Im zweiten Teil erklang die majestätische fünfte Sinfonie von Pjotr Tschaikowsky unter der Leitung Markus Poschner, der in nur wenigen Jahren das OSI zu einem der führenden Orchester der Schweiz geformt hat. Seit 2015 lenkt der 52-jährige Münchner das OSI und auch das Bruckner Orchester in Linz, wo er für seine herausragenden Bruckner-Aufführungen im Jahr 2020 als „Dirigent des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Die Aufführung der Sinfonie Nr. 5 e-Moll, Op. 64, entführte das Publikum in eine fesselnde Welt des Schicksals. Das Kernthema, von geschmeidiger Eleganz und wandlungsfähiger Dynamik, kontrastierte mitunter scharf und beinahe zerstörerisch. Die Brillanz der Blechbläser erzeugte eine strukturelle Dichte und Einheitlichkeit, wie sie nicht oft anzutreffen ist. Wunderbar ausbalanciert war die Dynamik in den einzelnen Gruppen des OSI. Die Musik atmete und pulsierte wie ein Organismus. Der zweite Satz begann magisch, getragen vom melodischen Klang des Solo-Horns, das vom hingebungsvollen Solisten des Orchesters atemberaubend in langen Bögen zelebriert wurde – ein sanfter Lichtstrahl, wie ihn Tschaikowsky beschreibt – und das unmittelbar folgende Solo-Fagott wurden von Poschner mit danach folgenden markanten Generalpausen akzentuiert, die ungewöhnlich lange ausgehalten wurden. Faszinierend die Klangfarben, die Klarinette und Flöte beisteuerten. Danach wurde das zu Herzen gehende Cantabile auf einen mächtigen Höhepunkt geführt, das von starken Paukenschlägen gekrönt wurden. Mit Wucht tauchte das Schicksalsmotiv im mächtigen Fortissimo auf, dann verebbte der Satz in leiser Melancholie. Der herrlich abphrasierte Schlussakkord währte ewig lange. Pure Poesie in der Klanggebung! Der dritte Satz wurde von Poschner als heiteres Intermezzo mit deutlichen Eintrübungen gegeben. Auch hier gemahnte das Fagott eindringlich an das Schicksal. Das finale Adagio lamentoso begann wie der erste Satz mit dem rätselhaften Schicksalsmotiv, um schließlich in einem feierlichen Ausbruch des gesamten Orchesters zu kulminieren. Am Ende dann die gewaltige Apotheose im hellsten Glanz. Im Gegensatz zur dominierenden russischen Tradition und der oft opulenten „westlichen“ Rezeption vermied Poschner übermäßiges Pathos. Zu erleben war die Transparenz der eleganten Farbenspiele und jugendlich drängende Tempi.

Diese Herangehensweise ermöglichte es ihm, eine ausgewogene Balance zwischen struktureller Integrität und ästhetischer Ausdruckskraft zu schaffen – zwischen der strikten sinfonischen Konstruktion und der klanglichen Wirkung des Werks. Poschner wählte für seine Interpretation eine kritische Neuausgabe der Partitur, sodass sich im finalen Satz markante Änderungen zeigten, wie Abschnittswiederholungen oder eine Kürzung in der finalen Coda. Die größte Überraschung war kurz zuvor ein überraschender, bis dato nie gespielter, Beckenschlag. Sehr wirkungsvoll und durchaus passend! Dabei brillierte das OSI unter Poschners Leitung in einer beeindruckenden Präsentation von Präzision und Leidenschaft. Die famosen Solisten am Horn, bei den Holzbläsern und die sehr sicheren Blechbläser trugen mit ihrer Interpretation maßgeblich zur Gesamtwirkung bei. Ihre virtuosen Darbietungen fügten sich nahtlos in das klangliche Gefüge ein und bereicherten das musikalische Erlebnis um zusätzliche Nuancen. Poschners Zugang zu Tschaikowskys lebensbejahender Energie ließ das innere Programm der Sinfonie noch eindringlicher erstrahlen, zumal er ebenso sehr emotional ausmusizieren ließ.

Diese Aufführung offenbarte eine ungewöhnliche Auffassung in einer eindringlichen Darbietung, die tief hinter die Partitur schaute. Markus Poschner zeigte sich als Dirigent, der sehr viel Neues über die Musik auszudrücken vermag. So empfand es auch das Publikum, das konzentriert lauschte und am Ende ausdauernd seine Begeisterung für dieses wirkliche Meisterkonzert zeigte.

Dirk Schauß, 21. April 2024


Meisterkonzert
Kurhaus Wiesbaden

19. April 2024

Anna Vinnitskaya, Klavier
Markus Poschner, Leitung
Orchestra della Svizzera italiana