Besuchte Aufführung: 21. 4. 2014
Demontage einer Lichtgestalt
Einen verspäteten Beitrag zum Wagner-Jahr 2013 stellte die Neuproduktion des „Lohengrin“ am Landestheater Coburg dar, mit der das hohe Niveau dieses kleinen Opernhauses wieder einmal offenkundig wurde. Man weiß wirklich nicht, wo man bei dieser rundum gelungenen Aufführung zu schwärmen anfangen soll: Bei der überzeugenden Inszenierung, den musikalischen oder den sängerischen Leistungen? Alles war wie aus einem Guss und formte sich zu einer nahtlos ineinander übergehenden Einheit von großer Eleganz zusammen, wie man sie auch an größeren Häusern nur selten findet. Der begeisterte Schlussapplaus des zahlreich erschienenen Publikums – es waren nur noch wenige Plätze frei – war nur zu berechtigt.
Mit Carlos Wagner, der in Coburg kein Unbekannter mehr ist, hat Intendant Bodo Busse einen Regisseur verpflichtet, der es ausgezeichnet verstand, das Werk weitab von aller Märchenhaftigkeit auf seine aktuelle Relevanz hin zu untersuchen. Nicht Romantik in schönen ästhetischen Bildern war angesagt, sondern krasser Realismus. Dabei goss Wagner die Handlung trefflich in eine politische Form und wartete zudem mit einer gelungenen Hinterfragung des Titelhelden auf. Unter seiner trefflichen Ägide wurde die ursprüngliche Lichtgestalt des Lohengrin nach allen Regeln der Kunst demontiert – ein sehr überzeugender Ansatzpunkt, der indes nicht mehr neu ist. Das haben Regisseure wie Andrea Moses in Dessau, Tilman Knabe in Mannheim und Frank Hilbrich in Freiburg ähnlich gemacht. Wagner tritt in Coburg nachhaltig in das Fahrwasser seiner Kollegen und lässt ebenfalls keinen Zweifel daran, dass er von dem Gralsritter nicht allzu viel hält und ihm misstraut.
Lohengrin ist bei ihm kein gottgesandter Gralsritter, kein von einer höheren Macht gesandter Retter der Unschuld. Das fließend weiße Gewand, das ihm von Christof Cremer verpasst wurde, ist nur schöner Schein, ein Blendwerk für das Auge, unter dem sich das wahre Gesicht des Protagonisten versteckt. Er betritt hier als weltlicher Machtpolitiker den von Rifail Ajdarpasic eingerichteten, mit Abgeordnetenbänken und Rednerpult samt Mikrophon eingerichteten Parlamentssaal, in dem Recht und Gesetz augenscheinlich keine große Rolle mehr spielen. Das wird durch die unter dem Schnürboden gerade noch sichtbaren, in der Luft schwebenden Fundamente der konventionellen Gerichtseiche nur zu deutlich. Zahlreiche Regale voller angehäufter Akten geben beredtes Zeugnis von so manchem Rechtsfall, der für den oder die Angeklagte sicher nicht immer positiv ausging. Das Parlament als Einheitsbühnenbild ist in Carlos Wagners Deutung gleichzeitig auch Gerichtssaal, der sich bei Lohengrins Auftritt zum Hintergrund hin öffnet. Hier fühlt man sich auch visuell an Frank Hilbrichs grandiose Freiburger Interpretation des Stoffes erinnert, der in einer riesigen Bibliothek spielte, in dem die Brabanter die Überlieferungen der Geschichte aufbewahrt haben.
Um Historie geht es nicht zuletzt auch bei Carlos Wagner. Und zwar um das schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte, den Nationalsozialismus, der gerade mit dieser Oper bei den Bayreuther Festspielen 1936 starken Missbrauch trieb. Dabei wendet der Regisseur nicht die Holzhammermethode an, sondern beschränkt sich auf Andeutungen. Unterstützt wird er von Kostümbildner Christof Cremer, der mit der braunen Einkleidung der mit Gewehren bewehrten Brabanter zwar einen deutlichen Bezug zur NS-Zeit herstellt, aber die Uniformen der Nazis nicht original zitiert. Die geistige Parallele ist indes offenkundig. Es machen sich faschistische Auswüchse breit, als deren Folge der Glaube an ein irgendwie geartetes (Grals-) Wunder nur noch bloße Makulatur ist. An die Gottgesandtheit des Titelhelden glaubt eigentlich keiner mehr so richtig. Man sieht ihn ihm nur einen neuen weltlichen Führer, nach dem das Volk aus innerer Not heraus flehend die Hände ausstreckt. Seine Verbindung mit Elsa entspringt letztlich nur politischem Kalkül, ist reine Zweckmäßigkeit und nur auf den Machtgewinn ausgerichtet. Den Kampf mit Telramund, der in gegenseitigem Vorbeilaufen und Anrempeln der beiden Gegner besteht, gewinnt Lohengrin nur mit Hilfe des Schwertes, das ihm Elsa reicht. Im Brautgemach unternimmt der auf einmal im Hintergrund auftauchende und dort ruhig verweilende brabantische Graf keinen Versuch, seinen Kontrahenten zu töten. Lohengrin metzelt ihn dennoch grausam nieder. Das ist alles andere als Notwehr, sondern glatter Mord. Hier erreicht seine Dekonstruktion zum Anti-Helden ihren Höhepunkt. Er geht über Leichen, um seine Macht zu erhalten, was ihn letztlich auch die Liebe Elsas kostet. Das Stellen der verbotenen Frage erscheint als von ihr erkannte letzte Möglichkeit, den unliebsamen Retter, in dem sie sich getäuscht hat, wieder loszuwerden. Dieser gibt die Macht am Ende an den jungen Herzog Gottfried ab, der als Schwan bereits durchaus überzeugend die Gestalt eines in Ketten gelegten Jugendlichen hatte. Ob er einen starken Herrscher abgeben wird, ist aber recht zweifelhaft. Eher nicht.
Musikalisch vermochte die Aufführung nachhaltig zu begeistern. GMD Roland Kluttig breitete Wagners Partitur mit aller ihm zur Verfügung stehenden Raffinesse vor den Ohren des begeisterten Publikums aus. Er hatte das Philharmonische Orchester Landestheater Coburg hervorragend im Griff und animierte es zu einem Spiel, das in puncto Intensität und Prägnanz kaum zu überbieten war. Ob es nun die phantastische Klangkultur der geradezu sehrend aufspielenden Streicher oder die schweren Akzente der unheilverkündenden Blechbläser waren, alle Instrumentengruppen entledigten sich ihrer Aufgabe mit größter Hingabe, was zu einem geradezu berauschenden Klangerlebnis führte. Dass entsprechend der beschränkten Größe des Coburger Grabens nur eine reduzierte Orchesterfassung für cirka 40 Musiker gespielt wurde, fiel unter diesen Voraussetzungen gar nicht auf. Leider hatte der Dirigent öfters mal den Rotstift in der Partitur angesetzt, was nicht hätte sein müssen. Entsprechend den beengten Verhältnissen auf der Bühne, die auch eine etwas statische Chorführung zur Folge hatten, ließ der Regisseur manchmal die Fanfaren aus dem Rang herunter spielen und den Brautchor im Spiegelsaal des Coburger Theaters – dieser liegt im ersten Stock – bei geöffneter Tür singen. Letzteres ging gut, wenn das Orchester nicht gerade dazu spielte. Sobald die Musiker im Graben aber einsetzten, war von den Choristen im ersten Stock – zumindest von meinem Platz aus – nichts mehr bzw. nicht mehr viel zu hören.
Auf durchweg hohem Niveau bewegten sich auch die sängerischen Leistungen. Es muss für einen Intendanten einen ausgemachten Horror bedeuten, wenn ihm gerade während der Feiertage gleich beide Sänger des Lohengrin kurzfristig ausfallen. Mit diesem Problem sah sich Bodo Busse an diesem Tag konfrontiert. Gerade zu Ostern, wenn die meisten Rollenvertreter im Regefall irgendwo den Parsifal singen, einen Ersatz für den Gralsritter zu finden, dürfte der Theaterleitung nicht leicht gefallen sein. Schließlich führte eine heiße Spur in das ferne Bremen, wo Heiko Börner gerade frei hatte und sofort bereit war, in Coburg einzuspringen, wofür ihm großer Dank auszusprechen ist. Dieser Sänger verfügt über bestens fokussiertes, kräftiges und höhensicheres Tenormaterial, mit dem er dem Lohengrin differenziert und nuancenreich singend in jeder Beziehung gerecht wurde. Auch in die Inszenierung hatte er sich gut eingefunden und vermochte auch darstellerisch voll zu überzeugen. Eine absolute Glanzleistung erbrachte Betsy Horne, die in der Elsa ihre bisher beste Rolle gefunden haben dürfte. Was diese Sängerin, die zu den ersten Kräften des Landestheaters Coburg gehört, an diesem Abend insbesondere gesanglich, aber auch schauspielerisch, bot, nötigt nachhaltig Bewunderung ab. Schon darstellerisch schnitt sie mit intensivem, nuanciertem Spiel phantastisch ab. Und ihre vokale Leistung war einfach überwältigend. Mit warmem und sonorem Sopran italienischer Schulung, der über großes Differenzierungsvermögen und Farbenreichtum verfügt, und in der Höhe schön aufblühte, gelang ihr ein sehr vielschichtiges Rollenportrait. Die dramatischen Ausbrüche der Herzogstochter gelangen ihr ebenso überzeugend wie deren träumerische, lyrische Momente, in denen sie ihre Stimme wunderbar innig und emotional eingefärbt und zudem mit vorbildlicher Pianokultur zu führen verstand. Kein Wunder, dass sie sich über den größten Zuspruch des Auditoriums freuen dürfte. Diese Elsa war bayreuthwürdig. Voll in ihrer Partie ging auch Martina Langenbucher auf, die ihr als Ortrud eine in jeder Beziehung ebenbürtige Gegenspielerin war. Bei dieser aufstrebenden Sopranistin paarten sich in perfekter Weise darstellerische Kraft und Dramatik ihres gut fundierten Gesangsvortrags. Vokal mit robustem, tiefgründigem Bariton ansprechend gab Juri Batukov den Telramund. Indes ist die deutsche Diktion des russischen Sängers noch verbesserungsfähig. Mit noblem, voll klingendem Bass bewältige Michael Lion die unangenehm hoch liegende Tessitura des König Heinrich tadellos. Falko Hönisch sang den Heerrufer zwar technisch unanfechtbar, indes hätte man sich von seinem lyrischen Bariton etwas mehr Durchschlagskraft gewünscht. Als Schwan/Gottfried machte der junge Mariusz Czochrowski einen nachhaltigen Eindruck. Prächtig präsentierte sich der von Lorenzo da Rio famos einstudierte Chor und Extrachor des Landestheaters.
Fazit: Eine wahrlich hochkarätige, festspielwürdige Aufführung, die dem schon oft bewährten Landestheater Coburg alle Ehre macht und deren Besuch sehr zu empfehlen ist.
Ludwig Steinbach, 23. 4. 2014 Die Bilder stammen von Andrea Kremper.