Linz: „Eugen Onegin“

Psychologisch ausgefeilte Interpretation

Nach einem gemeinsamen Libretto des Komponisten und Konstantin Stepanovich Shilovsky (1849-93), das auf der Vorlage von Alexander Puschkins Versroman „Eugen Onegin“ beruht, komponierte Peter Iljitsch Tschaikowsky seine gleichnamige Oper mit dem Untertitel „Lyrische Szenen“. Die Uraufführung fand am 29. März 1879 im Moskauer Maly-Theater unter der Leitung von Nikolai Grigorjewitsch Rubinstein (1835-81) und wurde von Studenten des Moskauer Konservatoriums aufgeführt. Während im Roman Puschkins die kulturelle Situation im Russland um 1820 am Leben junger Adeliger in Moskau und St. Petersburg sowie auf deren Landgütern mit ihren alten Traditionen abgehandelt wird, verkürzte Tschaikowsky die Vorlage auf eine romantische Liebesgeschichte unter fast völliger Ausklammerung der gesellschaftlichen Vorgänge zur Zeit der beiden Zaren Alexander I. (1777-1825) und Nikolaus I. (1796-1855).

In Linz leitete der 1983 in Sri Lanka geborene Leslie Suganandarajah, der dem Landestheater Linz seit der Spielzeit 2017/18 als 1. Kapellmeister angehört, nun erstmalig das Bruckner Orchester Linz bei einer Premiere. Er setzte dabei auf eher moderate, bisweilen sogar etwas zu sehr gedehnte Tempi, fand aber schließlich nach der Pause zu einem aufwallenden und formvollendeten Finale. Der erste Teil des Abends endete übrigens mit der Aufforderung zum Duell, sohin mitten im zweiten Akt. Das Duell findet dann handlungsgemäß bei Schneefall nach der Pause statt und die anschließende Polonaise im Hause von Fürst Gremin dient teilweise dem szenischen Umbau. Der in Düsseldorf geborene deutsche Regisseur Gregor Horres, der bisherige Leiter des Oberösterreichischen Opernstudios am Landestheater Linz, gab mit dieser Inszenierung seinen Einstand auf der großen Bühne des Musiktheaters, wobei er großes Augenmerk auf die Personenführung legte, indem er die unterschiedlichsten Charaktere der handelnden Personen wie ein Chirurg mit dem Skalpell aus ihrer, den Konvention und der Etikette geschuldeten, vorgegebenen und verkrusteten Verhaltensweisen löste.

So wurde die Briefszene, der Onegin auf einem vom Bühnenplafond herabgelassenen Zwischenboden stumm beiwohnte, zu einem der Höhepunkte seiner Inszenierung. Bühne und Kostüme entwarf der in Freital in Sachsen geborene Jan Bammes, wobei er die ländlichen Kostüme auf dem Landsitz der Larins im zaristischen Russland um 1820 ansiedelte und die stilvollen Roben der Damen im dritten Akt, der in St. Petersburg spielt, dem Jugendstil anlehnte. So trägt beispielsweise Tatjana im Hause von Fürst Gremin auch selbstbewusst und selbstbestimmt einen Hosenanzug, was für eine Frau im 19. Jhd. noch gänzlich undenkbar gewesen wäre und sucht offensichtlich ihrer Bestimmung als erfolgreiche Schriftstellerin gerecht zu werden. Die auf einen Zwischenvorhang zu Beginn der Oper projizierten Eiszapfen, die am Ende wieder auftauchen als der Titelheld in eine noch unbekannte Zukunft flieht, dienen als poetische Klammer, um das eisige Innenleben Onegins wieder zu spiegeln. Auf der eher karg eingerichteten Zwischenbühne in Form eines Rechtecks stehen zahlreiche, fest angeschraubte Sessel umher. Diese Plattform kann angehoben und gekippt werden, sodass Triquet an den Stühlen empor steigen und seinen Lobpreis auf Tatjana aus luftiger Höhe darbieten kann. Und Onegin darf in der letzten Szene auch die über die Sessel gezogenen Schutzüberzüge – verlegen – entfernen. Bei Puschkin ist Eugen Onegin übrigens erst 20 Jahre alt und bei seiner neuerlichen Begegnung mit Tatjana in St. Petersburg gerade einmal 26!

Nicht ganz so jung sind freilich die durchgehend stimmlich hervorragend disponierten und mit äußerster Hingabe spielenden Sängerdarsteller in Linz. Als Titelheld brillierte wieder einmal mehr der aus Tirol stammende Wahllinzer und charismatische Bassbariton Martin Achrainer. Geradezu idealtypisch verkörperte er dabei den von Puschkin geschaffenen Typus des überflüssigen Menschen, der am Rande der Gesellschaft steht, finanziell unabhängig, belesen und gebildet ist und mit den Gefühlen seiner Mitmenschen spielt. Als echter Müßiggänger kann er auch keinerlei Verantwortung übernehmen und empfindet sein Leben nur als langweilig. Den Wandel dieses Dandy zum geläuterten und nunmehr Empathie fähigen jungen Mann konnte er durchaus glaubwürdig vorführen. Erlösung blieb ihm aber naturgemäß verwehrt. Immerhin kann er sich glücklich schätzen, dass Tatjana ihn noch immer liebt.

Die polnische Sopranistin Izabela Matula war zu Beginn eine schwärmerisch ein Onegin verliebte und gleichzeitig naive Tatjana, die durch die Zurückweisung von Onegin mit einem Schlag von der Realität des Lebens eingeholt wird und durch diese erste und bittere Liebeserfahrung für ihr weiteres Leben gestählt wird. Mit ihrem warmen lyrischen Sopran stattete sie die Briefszene zu einer ergreifenden Studie über erwachende Liebe eines jungen Mädchens, das nach einem ihm geeignet erscheinenden Ausdrucksmittel sucht und erhielt dafür auch verdienten Szenenapplaus. Der in Lublin geborene polnische Tenor Rafał Bartmiński unterlegte die Rolle des romantischen Dichters Lenski mit seinem leuchtenden Heldentenor, der sehr gut zum erdigen Bariton von Onegin und dem Mezzosopran von der Britin Jessica Eccleston in der Rolle von Olga, seiner Verlobten und jüngeren Schwester von Tatjana, fröhlich uns völlig unbedacht mit Onegin flirtend, passte. Die Kinderfrau Filipjewna wurde von der aus Varna stammenden bulgarischen Mezzosopranistin Valentina Kutzarova mit wahrer Herzenswärme interpretiert. Katherine Lerner war eine intensive Gutsbesitzerswitwe Larina, mit mütterlich sanften Mezzosopran fürsorglich um ihre beiden Töchter bemüht. Fürst Gremin wurde von Bass Michael Wagner perfekt und nobel dargeboten. Noch länger als er hat – meiner Erinnerung nach – lediglich der unvergessliche József Gregor (1940-2006) den Schlusston ausgehalten. Matthäus Schmidlechner ließ seinen Tenor im kurzen Auftritt von Monsieur Triquet, modisch nach dem dernier cri gekleidet, aus der bereits erwähnten Anhöhe der gekippten Zwischenbühne ertönen. Die kleineren Rollen waren noch mit den beiden Bässen Marius Mocan als Hauptmann, sowie Tomaz Kovacic als Sekundant Saretzki, der südkoreanische Tenor Jin Hun Lee als Vorsänger und Florens Matscheko in der stummen Rolle von Onegins Kammerdiener Guillot besetzt. Erwähnt werden muss auch der von Martin Zeller hervorragend einstudierte Chor des Landestheaters Linz. Für die gelungene russische Sprachbetreuung gebührt allergrößter Dank Marianna Andreev. Den begeisterten Applaus für alle Mitwirkenden konnte der Rezensent noch auf dem Weg zum Zug nach Wien im Foyer des Musiktheater Linz wahrnehmen.

Harald Lacina, 15.4.

Fotocredits: Reinhard Winkler