In eine Künstlergruppe der 1970er Jahre entführt Cusch Jungs Inszenierung von Puccinis „La Bohème“ am Volkstheater Rostock. Die Versetzung in diese gerade in den europäischen und US-amerikanischen Großstädten oft wilde Aufbruchszeit ist ausgesprochen stimmig. Es hat immer wieder solche Jahre oder Jahrzehnte gegeben, in denen Künstler, Literaten und Komponisten von den Zeitläuften besonders inspiriert wurden, sich neue Freiheiten erkämpft oder politische Umbruchssituationen Möglichkeiten eröffnet haben, die zuvor in weiter Ferne lagen.
Auch die frühen 90er Jahre waren nach Mauerfall und Zusammenbruch der Sowjetunion von Euphorie und Aufbruchsgeist durchflirrt und wer damals in Berlin wohnte, konnte in der Oranienburger Straße Dutzende von Ateliers und Kleinkunstbühnen bis in die frühen Morgenstunden durchstreifen und dort gleichermaßen hoffnungsvolle wie von Anfang an zum Scheitern verurteilte Existenzen treffen. Heute sind die Mieten dort unbezahlbar, zumindest für die Bohème, wie sie Puccini in seiner „opera lirica“ so humorvoll und treffend zeichnet.
Der Rezensent kannte eine WG aus Theaterleuten und Künstlerinnen, an die er sich in der Rostocker Inszenierung deutlich erinnert fühlte. Ein junger Regisseur hatte sich für die deutsche Uraufführung eines russischen Theaterstücks mit 40.000 D-Mark verschuldet und auf die Bemerkung, daß sich andere schon wegen solcher Summen umgebracht hätten, knallten erstmal die Sektkorken. Die Premiere war ein gefeierter Erfolg und aus dem jungen Regisseur ist ein erfolgreicher Theatermann geworden; die Geschichte ging zumindest gut aus.
So ist sie halt, die Bohème, die in Pariser Dachstuben friert und mit beachtenswertem Hang zur Selbsttäuschung nicht bemerkt, wann es wirklich Zeit wäre, das karge Geld für Medikamente anstatt für Champagner auszugeben. „In der Diskrepanz zwischen ihrer Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben und der Wirklichkeit, die sie daran zerbrechen läßt, liegt die Wunde, die uns weinen macht“, sagt Regisseur Cusch Jung in einem im Programmheft abgedruckten Interview.
Tränen flossen am Ende tatsächlich, dies sei schon vorweggesagt, denn gerade das schmerzvolle Finale dieser Inszenierung traf ins Herz.
Das Bühnenbild von Karin Fritz, die auch die Kostüme entworfen bzw. wahrscheinlich in elterlichen Kleiderschränken gefunden hat, läßt hier tatsächlich drei Bilder entstehen. Die kammerspielhafte Guckkastenbühne des Volkstheaters im minimalistischen Saal eignet sich gerade für das erste Bild ganz hervorragend. Dies ist die Dachbodenbude von Rodolfo mit großformatigem, ungegenständlichem Gemälde in blutrot, dann folgt das legendäre „Momus“, eine Gaststätte mit auch im Winter funktionierendem Außenausschank in einem Park voller stimmungsvoller Lichterkettenbäume. Zwei Showgirls im aufreizenden Weihnachtsmann/mädchen-Kostüm scheinen der Schluß-Szene aus Monty Pythons´ „Sinn des Lebens“ entsprungen und wären nicht unbedingt nötig gewesen. Sie tragen zwar zur Kurzweil in der Umbaupause bei, brechen aber in ihrer Koketterie mit dem Publikum etwas die Konzentration auf das Bühnengeschehen.
Im dritten Bild läßt der mit kalten Straßenleuchten erhellte Vorplatz eines zweifelhaften Etablissements Mitwirkende und Zuschauer frösteln; kein Vogel sucht im Schneetreiben nach Nahrung, auch die Bordsteinschwalben ziehen sich mit ihrer der Witterung unangemessen knappen, aber eben geschäftsfördernden Bekleidung bald ins Innere zurück. Das Schlußbild ist, abweichend vom Original, wieder der Park, denn offenbar sind wenigstens Rodolfo und Mimí obdachlos geworden. Diese Szene macht alle, vor allem die schwindsüchtige Mimí, noch angreifbarer und kein Ofen wärmt die Sterbende. Jede Hilfe kommt zu spät, sie selbst und alle anderen haben die tödliche Krankheit glorreich verdrängt.
Die Norddeutsche Philharmonie Rostock unter Eduardo Browne Salinas spielt füllig und gleichsam ausgewogen, was die Solo-Instrumente angeht. Mit Leidenschaft eröffnet der Dirigent zu jedem Aufzug die emotional aufgeladene Musik und in den beiden ersten Teilen haben die Solistinnen und Solisten mitunter etwas Mühe, sich gegen den starken Klangkörper zu behaupten – in den beiden letzten Aufzügen allerdings paßt alles perfekt.
Natalija Cantraks Mimí ist verletzlich und macht schon rein sängerisch greifbar, wie krank sie wirklich ist. Im Duett „O soave fanciulla“ deutet sich ihre angeschlagene Gesundheit gerade zum Schluß hin in einem zitternden Unterton deutlich an. Sängerisch wie darstellerisch füllt sie die sensible Rolle überzeugend und vor allem in der Sterbeszene rührt sie alle spürbar im Innersten an.
Gustavo Mordente Eda gibt einen wunderbar charmanten und liebenswürdigen Rodolfo mit warmer, geschmeidiger, in der Mittellage samtig-satter Stimme, dem man auch seine zwischenzeitliche Wankelmütigkeit schnell vergibt. Er liebt wirklich und kann nicht fassen, dass Mimí ihm tatsächlich entgleitet; sein letzter verzweifelter Ruf, als er ihres Todes gewahr wird, lässt sofort die Herzen derjenigen weich werden, die wissen, was der Verlust eines geliebten Menschen bedeutet. Man hat von Lübecker Fans gehört, die allein wegen dieses Tenors nach Rostock kommen; er ist derzeit Stipendiat des Lübecker Opernstudios.
Trotz oder gerade wegen ihres Hanges zu einer amour-fou-Beziehung ist die Beziehung von Musetta und Marcello dennoch stabil, wenn auch kräftezehrend für alle Beteiligten. Für die erkrankte Lena Langenbacher springt Karola Sophia Schmid ein und entwirft eine laszive, selbstgefällige, letztlich aber doch sympathische Musetta mit erotischem Timbre. Kein Wunder, daß Marcello ihr verfallen ist; Grzegorz Sobczak singt und spielt den Künstler mit viriler Kraft und Fähigkeit zur Selbstironie. Vereinzelte Buh-Rufe beim Schlußapplaus sind angesichts seiner kernigen und vielschichtigen Darbietung völlig unangemessen.
Daniel Holzhauser als Schaunard und Jussi Juola als Colline runden die flippige Truppe ab und geben jeder der Rollen ihren ganz eigenen Charakter.
Trotz oder gerade wegen der Schlaghosen und des engen Pullovers ist Olaf Lemme als Benoît herrlich spießig; seine Doppelmoral wird ihm zum peinlichen Verhängnis.
Einen bunten und quicklebendigen Hintergrund für die großen Rollen bildet der Kinderchor der Singakademie Rostock unter Dmitry Krasilnikow; die Kleinen und etwas Größeren haben sichtbar Spaß an ihrem Spiel.
Spaßig sind die Rollen der Solistinnen und Solisten nur zeitweise, aber gleichermaßen in den humorigen wie ernsten Szenen beleben alle ihre Partien spielerisch absolut überzeugend. Eine aufmerksame Personenregie hat für eine lebhafte Darstellung gesorgt und es glänzen gerade solche kleinen Kabinettstückchen wie in der Szene, als Rodolfo dem nichtsahnenden Marcello die Tür des Etablissements beim Aufstoßen an den Kopf haut; man fühlt die Beule förmlich und der Geschlagene muß sie sich mit einem Schneeball kühlen.
Die lustigen Momente können nicht über den letztendlichen Ernst der Lage hinwegtäuschen und so bleibt sie bei den Mitwirkenden und dem Publikum: Die Wunde, die uns weinen macht.
Andreas Ströbl, 24. Januar 2024
La Bohème
Giacomo Puccini
Volkstheater Rostock
21. Januar 2024
Inszenierung: Cusch Jung
Musikalische Leitung: Eduardo Browne Salinas
Norddeutsche Philharmonie Rostock