Nürnberg: „Eines langen Tages Reise in die Nacht. Instrumentalversion“, Philipp C. Mayer

Frei nach Wittgenstein: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man singen – oder spielen. Oder ein Instrument spielen; es kommt in diesem Fall auf das Selbe heraus.
Eugen O’ Neills Stücke sind nicht dafür bekannt, dass in ihnen zu wenig Worte gemacht werden. Im Gegenteil: Es sind reine Wort-Dramen, die auch auf einer reduzierten Bühne sehr gut funktionieren – vorausgesetzt, die Schauspielerinnen und -spieler tun das Ihre. Als 2013 in den Münchner Kammerspielen Seltsames Intermezzo aufgeführt wurde, konnte man stundenlang auf eine leere Rundbühne schauen. Mehr gab’s da an Bühnenbau nicht – und es funktionierte schier beifallprovozierend, weil die Akteure, unter ihnen die fantastische Sandra Hüller in der Hauptrolle, wussten, was sie sprachen, auch wenn die Sprache das Letzte war, was zur Klärung der Probleme beitrug.

© Konrad Fersterer

Eines langen Tages Reise in die Nacht, ein spätes Werk von 1956, ist gleichfalls ein sehr wortreiches Drama, in dem doch, so die These der Dramaturgie und Regie, mit vielen Sätzen nur das gesagt wird, was eh jeder sieht: dass sich so etwas wie Depression nicht in Worte bringen lässt. In Nürnberg gingen sie nun einen Weg, den man nicht anders denn als „experimentell“ bezeichnen kann: Man spielt O’Neills Stück in einer sozusagen dramatisch verschlankten Version, verzichtet auch auf die (menschliche) Sprache, um an den Kern der Figuren zu kommen. Man spricht nicht, aber man spricht doch: auf sehr eigene Weise. Während die Schauspieler den stark eingedampftem Text (aus 113 Textseiten wurden 22) quasi stumm sprechen, werden sie von spezifisch zugeordneten Solo-Instrumentalisten musikalisch begleitet. Das quäkt und stöhnt im langen ersten Teil vernehmlich, das ächzt und poltert, raunzt und leidet – mal aphoristisch kurz, mal länger. Bisweilen, aber das ist selten, meint man den Originaltext aus dem von Philipp C. Mayer komponierten und organisierten Sound heraus zu hören. Nein, es ist keine Oper, und wenn’s eine wäre, wär’s eine ohne Gesang. Ja, es ist ein Musik-Theater eigener Prägung, das die totale Aufmerksamkeit des Zuhörers und -schauers verlangt. „Das war anstrengend“, raunt die junge Dame nach dem Fallen des Vorhangs ihrer Freundin zu, aber auch sie hat, man spürt das, das musikalisch-pantomimische Geschehen mit Spannung verfolgt, weil die Geschichte der dysfunktionalen, wie man heute etwas modisch zu sagen pflegt, Familie Tyrone alle Aufmerksamkeit verdient. Im Mittelpunkt dieser von Rieke Süßkow inszenierten Deutung steht definitiv die Frau, also Mary Tyrone, die Frau des Schauspielers James Tyrone, die an ihrer Existenz psychisch zu Grunde geht, weil ihr der Lebenssinn nach dem Tod ihres ersten Kinds verloren ging und der Mann, ein alkoholisierter Schauspieler, sie bei seinen Gastspielen in der Garderobe abzusetzen pflegte. Der kranke Sohn Edmund und der Alkoholikersohn Jamie Tyrone vervollständigen das Quartetto infernale der Familie, deren Sprache zu Äußerungen eines Unausgesprochenen mutiert ist. Hier die Depression der Mutter, dort die Musik, die über weite Strecken notiert wurde, aber doch Raum zur Improvisation lässt; über Beides, da hat man Recht, kann man im Grunde nicht wirklich sprechen (daher wirken Einführungen in Musik stets ein wenig hilflos gegenüber dem Eigentlichen). Um den Ausdrucksvaleurs nahe zu kommen, wird Mary, also Stephanie Leue, von der Violine, also Ekaterina Zeynetdinova, begleitet: kratzend und manchmal legato. Der Abend beginnt, eine anstrengende Viertelstunde lang, mit dem Sound-Tape einer schrecklich gekratzten Violine, er endet auch mit diesem Dauergeräusch; man scheint zu verstehen, was im inneren Klangraum einer Depressiven vorgehen muss. Das Violoncello begleitet den tyrannischen wie hilflosen Mann; Stephan Schäfer agiert neben dem look-alike Lukas Jansen. Die Klarinette ist dem kranken Edmund beigegeben, Nina Janßen-Deinzer steht und läuft neben Joshua Kliefert einher. Lukas Immanuel Krauß posauniert neben dem Jamie des Justus Pfankuch, der Sound ist, wie der auch aller anderen Instrumente, nicht schön, aber charakteristisch. Gestopfte Töne sind keine Ausnahme. Schließlich, aber nicht zuletzt: Ines Ljubej, die als Frau am Schlagwerk über und neben den Dingen thront und sich doch intensiv ins Ton-Geschehen einbringt.

© Konrad Fersterer

Der Schluss, also die letzten gut 20 Minuten, ist infernalisch, entfernt sich auch von jeglichem „Text“. In einer Dauerschleife mehrerer Wiederholungen dreht sich die aufgebockte Drehbühne, auf deren Spitze ein beweglicher Tisch nicht für Sicherheit sorgt. Während Mary hysterisch ihr Morphium sucht, köpft der böse Sohn immerzu den kleinen Teddy, den wir zuvor in den Händen des sterbenden Kindes sahen (Ekaterina Zeynetdinova machte auch das grandios), steckt ihn aufs Grabkreuz und traktiert den Bruder brutal mit schwerem Alkohol. Der Mann kommt mit einer Blume, das bleibt sinnlos, er schiebt einen Rasenmäher vor sich her und wird von Jamie gestoppt, immer wieder und nochmal, während die Drogensüchtige die Requisiten zerlegt. Das Quintett, das schon vorher einige orchestrale Zwischenspiele zugegeben hat, hat sich inzwischen in einem guten forte zusammengefunden, der Abend endet in einem Crescendo des Irrsinns. Der Rest ist nicht Schweigen, sondern das nervende Gekratze, mit dem das Stück prologisch began
Könnte man indes nicht einwenden, dass eine derartige „Instrumentalversion“, der ja nicht grundlos 113 Textseiten schrieb, die Idee des Schriftstellers konterkariert, dass die Sprache selbst in einem Drama der misslingenden Kommunikation grundlegend ist? Misstraut man nicht einen Theaterautor, wenn man die Worte zugunsten eines bisweilen hermetisch scheinenden, wenn auch gelegentlich ohrenöffnenden Musikwerks suspendiert? Wie gesagt: die „Instrumentalversion“ muss als Experiment verstanden werden – erst dann wird klar, worum es eigentlich geht: um die Annäherung des Gemeinten an eine Ausdrucksform, die weit über das gesprochene Wort hinausgeht. In diesem Sinn haben die Nürnberger ein Musiktheater geschenkt bekommen, das manchmal nervt, manchmal auch ein wenig ermüdet, manchmal amüsiert und oft fasziniert, also den mal geschwätzigen, mal bannenden O’Neill mit starken Bildern (die Violinistin schwebt zunächst, eingehüllt in ein riesiges weißes Tuch, über der Szene) und einer ungewöhnlichen wie genauen Bild-Ton-Analogie zu fassen bekommt. Was den einen Sandra Hüller, ist den anderen eben Stephanie Leue und eine Primgeigerin.
Etwas Anderes haben wir auch vom Team, das 2023 Werner Schwabs Übergewicht unwichtig: Uniform extrem musikalisch und theatertreffenwürdig in Nürnberg auf die Bühne brachte, auch nicht erwartet.

Frank Piontek, 24. Oktober 2024


Eines langen Tages Reise in die Nacht. Instrumentalversion
Frei nach Eugene O’Neill
Komposition und Musikalische Leitung: Philipp C. Mayer

Schauspielhaus Nürnberg

Premiere: 13. Oktober 2024
Besuchte Aufführung: 23. Oktober 2024

Regie: Rieke Süßkow