Nürnberg: „Parzival“, Kieran Joel / Fabian Schmidtlein

„Der Weg zu Parzival führt nicht über Bayreuth. Die Bühnenfigur (…) ist mit Wolframs Parzival nur entfernt verwandt. Parzival und Parsifal trennt mehr als nur die Schreibweise.“ So zu lesen im gewaltigen, dem mittelalterlichen Epos angemessenen Vorspruch zur Übersetzung von Wolframs von Eschenbach Parzival-Epos, die er 1986 vorlegte.

© Konrad Fersterer

Dass Parzival von Wagners reinem Toren mehr als die Schreibweise trennt: es wird am Premierenabend des Nürnberger Parzival nicht allein an der Textgrundlage deutlich, die Dieter Kühn den Bearbeitern lieferte. Es wird auch an der Musik offenbar. Dringt in Bayreuth der köstlichste „Greisenavantgardismus“ (Adorno) ins Ohr, so wird der musikaffine und -aufmerksame Besucher im Schauspielhaus an der Pegnitz meist durch (typisch) rhythmisch einschichtige, aber sensitive, von Antonio de Luca und Caroline Kox komponierte Electro-Pop-Klänge und Klangflächen erfreut. Im Zeitalter von Ironie und Härte nimmt man sich des Stoffs in einer Form an, die die Parzival-Geschichte – nach Peter Handkes und Tankred Dorsts Dramen und Adolf Muschgs vergleichslosem Roman Der Rote Ritter – mit Wolframs/Kühns Versen und jeder Menge textlicher und szenischer Erweiterungen geistreich weiterspinnt, um in guter kritischer Tradition ein Exempel zu statuieren. Erzählt wird also nicht allein eine Readers-Digest-Fassung der verzweigten, mit vielen „Nebenfiguren“ angereicherten Handlung, die Wagner später in ideologischer Eigenmächtigkeit auf einen Kern reduzierte, wie er nur von ihm erdacht werden konnte. Wie in Alice im Wunderland, einer musikbasierten Produktion des Nürnberger Schauspielhauses, gerät die Auseinandersetzung mit dem Stoff wieder zu einer Auseinandersetzung mit Konventionen und Bedingtheiten. Denn die Frage, welchen gesellschaftlichen Umständen der „Held“ seine Existenz verdankt und wie die Rolle von „Nebenrollen“ (im Leben wie auf der Bühne) bewertet werden kann, ist nur eine Möglichkeit, sich des Stoffs zu bemächtigen, der ja nicht grundlos seit 800 Jahren tradiert, immer wieder neu übersetzt, immer wieder neu interpretiert wird; es gibt ja schließlich auch nicht den einen und einzigen Gral. In Nürnberg steht er, zumindest während der sog. Enthüllung, für die verführerisch glitzernde Welt der clipmäßig angepriesenen Waren, genauer: den golden verbrämten Konsumterror. Das mag platt erscheinen, aber, wie gesagt: den Gral hat es nie gegeben.

© Konrad Fersterer

Nicolas Frederick Djuren steht als primus inter pares im Mittelpunkt eines Abends, der ihn als unschuldig weißen Jungen einführt und als schreiendes Monster mit Allmachtsphantasien entlässt. Der Plan des Vaters (!) Gahmuret, ihn aus der Welt des Kriegs und des „Heldentums“, ergo: des dummerweise anzustrebenden Individualismus herauszuhalten, scheitert auf ganzer Linie. Der Ritter braust mit seinem Motorroller durch die Welt, um an anderen Rittern, Königinnen und falschen Ratgebern zu lernen, dass die Regeln undurchschaubar und die angestrebte Weisheit unerreichbar ist. Der gordische Knoten kann für diesen „Helden“ nur durchschlagen werden, indem er sich gewaltsam des Königtums bemächtigt; seinen Rückhalt findet diese Interpretation in der aus skeptisch-moderner Sicht unhaltbaren „Prophezeiung“ eben dieses Königtums. So wird die Mitleidsfrage zum bedeutungslosen Ritual, so wird der von Wolfram von Eschenbach so ernsthaft wie zart ironisch gelösten Handlung eine Sperre eingebaut, die zutiefst beunruhigt. Denn wenn unser ganzes Handeln auf Regeln basiert, die uns als autonome Wesen völlig außer acht lässt: Was bedeutet diese Setzung dann noch in Bezug auf einen eindeutigen moralischen Verhaltenskodex? Die Frage bleibt mal wieder: Sind wir nicht alle ein bisschen Parzival?

Der Rest ist nicht Schweigen, sondern ein schier minutenlanges Standbild: der blutüberströmte Ritter, der gerade einen auf Werktreue und Schönheit pochenden wie fränkelnden „Deutschlehrer“ in der Kulisse erschossen hat, zeigt sich als grässliches Abziehbild eines mörderischen Usurpators. Spätestens hier wird dem Abend der letzte Anflug von Humor ausgetrieben – und der war vorher reichlich. Köstlich die mehr oder weniger agressiven Streit-Gespräche der „Nebenrollen“ über ihre Relevanz bzw. Unbedeutendheit, auf eigene Weise witzig der Monolog des „alten Schauspielers“, also Gahmurets, des einstigen „Superhelden“, der als in die Jahre gekommene Bühnenfigur nur noch zu sterben hat: Thomas Nunner arbeitet sich mit der Abgeklärtheit und Lockerheit des erfahrenen Bühnenprofis durch den Abend. Das Theater spielt mit den Gewohnheiten und Möglichkeiten des Theaters; ein unsichtbarer Erzähler erzählt die Geschichte nach Wolfram – und kommuniziert, gelegentlich leicht verwirrt, mit den Akteuren. Wenn die Bühne mal leer ist und ein Video die Schauspieler in ihrer Bühnenkluft in der Kantine zeigt, wird, auch das ist sehr witzig, eine weitere „Meta“-Ebene eingeschaltet. Die Parodie eines historistischen Ritterspektakels und die Nonchalance eines postmodern argumentierenden Diskussionstheaters passen trefflich zu dem, was der Regisseur Kieran Joel und sein Dramaturg Fabian Schmidtlein bei Wolfram vorfanden: das Sprechen über den Stoff und die gelegentliche Brechung der Erzählung über die Bedingungen eben des Erzählens. Den Parzival auf manchmal subtile, manchmal eher grobschlächtige Art inmitten von rotgespritzten Baumskeletten und in Gegenwart eines rauchspeienden Krokodils in die Gegenwart zu bringen, ist nichts mehr als legitim, vor allem dann, wenn man brillante Spieler zur Verfügung hat, die in den diversen „Nebenrollen“ glänzen: Sasha Weis, die im zweiten Teil auf der rotierenden Drehbühne auch eine grandiose Solo-Arie und -Szene hat (Gawans Kampf im lit de merveille, dem Wunderbett), nachdem sie auch mal als „Baum“, der letzten aller möglichen Nebenrollen, selbstreflektierend über die Bühne wütete, Stephanie Leue als Gurnemanz und Trevrizent, die personifizierten dickbäuchigen Ratschläge, aber auch als schwarzverhüllte Sorciére, als Kundrie, der Parzival das Königtum abpresst, Matthias Luckey als weißglänzender Artus und falsettierend singender Gralskörper, schließlich Luca Rosendahl als Königin Conduiramour und als Ither, der das Pech hat, einem ungezügelten jungen Mann zu begegnen, der sich ohne Rücksicht auf Humanverluste dessen „Rüstung“ bemächtigt.

© Konrad Fersterer

Männer spielen Frauen, Frauen Männer: die Geschlechter werden getauscht, was im Sinn der theatralen „Verfremdung“ sinnvoll sein mag. Es würde nur modernistisch anmuten, würden die Damen und Herren vom Nürnberger Staatsschauspiel die 2 Stunden 50 nicht so heftig wie humoristisch, so klar wie komisch durchspielen (Djuren darf während der gesamten Pause stocksteif stehend coram publico über Parzivals weiteren Weg nachdenken) und mit vollem körperlichem Einsatz beglaubigen, dass immer noch etwas an den Problemen dran ist, die schon Wolframs Figur mit den Anforderungen der „Gesellschaft“ hatte.

„You can be a hero“? Es reicht schon, wenn man ganz „normal“ ist – und einen „Alltagsjob“ macht wie die Schauspieler, die sich mit Inbrunst in die „Haupt“- und Nebenrollen stürzen. Der Weg zu Parzival führt eben über Nürnberg, nicht über Bayreuth. Der Weg zu Parsifal wird übrigens allerdemnächst wieder über Nürnberg führen – aber das ist schon eine etwas andere Geschichte.

Frank Piontek, 23. März 2024


Parzival
Kieran Joel, Fabian Schmidtlein

Schauspiel Nürnberg

Premiere: 21. März 2024

Musik: Antonio de Luca und Caroline Kox
Regie: Kieran Joel