Pilsen: „Die Teufelswand“, Bedřich Smetana

Müsste ich mich heute für eine Smetana-„Lieblingsoper“ entscheiden, so wäre dies Die Teufelswand, also Čertova stěna.

Die Teufelswand? Ausgerechnet diese Oper, die als dramaturgisch besonders missglückt gilt? Ja, denn auch hier gilt, dass die Musik wieder einmal alle Zwecke heiligt. Die Smetanakritiker unter den Smetanafreunden mögen recht haben, wenn sie die etwas ungelenke Handlung monieren – sie haben Unrecht, wo sie sie mit der Musik in Zusammenhang bringen, deren angebliche Schwäche dem Libretto verdankt wird, aus dem der Meister eben nichts sonderlich Inspirierendes entnehmen konnte. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Es ist erstaunlich, dass Smetana, noch dazu in seinem ertaubten und psychisch zunehmend fragiler werdenden Zustand, am Ende seiner produktiven Tage auf der Grundlage des „Ballasts“ der Vorlage eine derartige Partitur zustande bringen konnte. Würde man eine seiner Opern in einer konzertanten Aufführung bringen, so wäre dafür vielleicht kein besseres Exemplar als diese Oper zu finden – dies nicht, weil die Dramaturgie und die Charakterzeichnungen auf den ersten Blick schwächer zu sein scheinen als in jeder anderen Smetana-Oper, sondern weil die Musik, die er dem Textbuch abgewann, besonders fein ist. Ihr Ton ist, da oft die leisen Streicher dominieren, zart, die Harmonien sind, echt smetanesk, schillernd, doch nicht willkürlich, die Instrumentation vollkommen. Schwer, hier nicht noch einmal von einem Meisterwerk zu sprechen. Der Begleittext-Autor der bislang einzigen Einspielung des Werks, Mirko Ocadik, hat es erkannt: „Der Zauber ihrer Melodieseligkeit und ihrer breit entfalteten Lyrik“ würden den Hörer entschädigen, der länger über die Rätsel der Musik nachdenke. Smetana selbst hat seine letzte Oper als „harte Nuss“ bezeichnet – zumindest als „harte Nuss“ für die Kritiker…

© Martina Root

Diesmal hat Smetana sich sehr gemüht. Die Komposition geht nicht mehr so schnell voran wie früher; die Krankheit erschwert den Prozess, aber sie vermindert ihn nicht. Im September 1879 beginnt er mit dem ersten Akt, erst zweieinhalb Jahre später, im April 1882, ist die Arbeit vollendet. Am 29. Oktober 1882 erlebt Smetana seine letzte Premiere im Neuen Tschechischen Theater. Dass sie mäßig ausfällt und das Publikum weniger begeistert ist als bei früheren Uraufführungen lag nicht allein am Werk selbst. Die Intendanz hatte die Inszenierung „nachlässig ausgestattet“, wie Smetana anmerkte, so dass nicht einmal der Schauwert für das fehlende Verständnis gegenüber der Partitur einstehen konnte. Zwar notierte Smetana auch, dass die Musik „gefallen“ habe, aber offensichtlich konnten nicht alle Smetana-Freunde der Logik der Musik folgen. Wir erinnern uns: Smetana betonte die „Verbindung auch einfacherer Melodien mit der immer gewissenhaften gewählten entsprechenden Harmonie und einem wohldurchdachten Aufbauplan unter Beziehung und Bedacht auf die Einheit der ganzen Oper“. Wieder erfindet er Themen zur Verarbeitung. Die szenische „Einheit“ wird durch das Sujet gewährleistet, daß die „Romantik“ des Geheimnisses konsequent weiterführt. Im mystischen Mittelpunkt des Werks steht der Teufel namens Rarach, der für allerlei Wirrsal sorgt. Wir befinden uns in einer mittelalterlichen, mit märchenhaft-sagenhaften Motiven angereicherten Szenerie, wie sie die Zeit so liebte: gezeigt wird, wie der Burgherr Vok Vítkovic, der aus Enttäuschung der Liebe abschwor, am Ende doch eine Frau, pikanterweise ein junges Ziehkind Hedvika, bekommt. Ritter Jarek, der seinen Herren so schätzt, dass er zu Beginn der Oper schwört, erst dann zu heiraten, wenn sein Herr es tue, liebt Katuška. Der Teufel tritt in vielerlei Gestalt auf: auch in der des Einsiedlers Beneš, der zunächst als leicht hinterlistiger Geselle eingeführt wird. Er möchte nichts lieber als zum Abt des Klosters ernannt werden, hindert also seinerseits den Burgherren am Übertritt in die Ehe; der Teufel versucht am Ende, mit seiner schnurstracks aufgerichteten „Teufelswand“ eine Katastrophe ins Werk zu setzen, die schließlich vom Einsiedler verhindert wird. Am Ende können die Männer nicht nur ihre Frauen heiraten; Vok wird zudem zum führenden Hauptmann des Reichs ernannt.

Smetanas Partitur zeichnet sich nun nicht nur durch die sensible Darstellung seiner Figuren in innigsten Tönen aus. Indem er dem Teufel eine charakteristische Färbung gab, schuf er mit seiner letzten Oper zugleich seine modernste. Das Teufelsmotiv erscheint schon in der Ouvertüre in Form von drei aufeinander folgenden übermäßigen Quartakkorden, die vielfältig variiert werden, so auch in einem irren Teufelswalzer, dem eine „phantastisch verzerrte“ Polka folgt. Die Bizarrerien eines Gustav Mahler sind nicht mehr fern. Hana Séquardtová konnte feststellen, dass Smetanas Musik zuletzt eine Musik der „komplizierten harmonischen Arbeit mit vergrößerten Intervallen, reicher Chromatik, Alterationen und jäher Modulation“ war, wie sie dem Thema angemessen war. Wo er sich vom Textbuch inspiriert fühlte, so Kurt Honolka, und nicht allein Rezitative komponierte, „blühte seine Erfindungskraft unvermindert“. Damit aber erfand er eine neue Musik, die, hier muss man Honolka widersprechen, nicht allein zwischen den angeblich uninspirierten Passagen von hoher Güte ist – denn die Moderne dieser Partitur bemisst sich nicht allein an den schrägen Akkorden des Teufels-Motivs, auch an der grundsätzlichen „Arbeit mit Motiven und ihren Varianten, im freien Umgang mit den traditionellen Formen wie Arie, Rezitativ und Chor innerhalb großangelegter szenischer Komplexe“. Für Laien: die Musik strömt herrlich dahin.

© Martina Root

Seltsam, dass ausgerechnet dieses Werk heute kaum auf den Bühnen, auch nicht auf den tschechischen, vertreten ist. Umso schöner, es nun in Pilsen zu erleben, wo man aus Anlass des 200. Geburtstags des Komponisten in zwei Spielzeiten alle acht genialen Opern des Meisters auf die Bühne bringt. Schnell wird klar, dass auch Die Teufelswand dramatisch-dramaturgisch gut ist – man muss nur alle Informationen zur Kenntnis nehmen, die die Musik und das Libretto der Eliška Krásnoharská dem Zuhörer bieten. Freilich inszeniert Jiří Nekvasil das Werk nicht im Stil eines analytischen Musiktheaters, sondern so naiv, wie man es in Pilsen gewohnt ist. Naivität aber passt sehr gut zum märchenhaften, musikalisch zwar seinerzeit modernen, von heute ausgehört aber gemäßigt klingenden Sujet. Ein „volkstümlicher“ Frauenchor bleibt ein „volkstümlicher“ Frauenchor, ein „edler“ Herr ein „edler“ Herr – und ein amüsanter, lustig-samielhafter Teufel unterhaltsam. Der ebenso „edle“ Ritter darf seinen Gefühlen vollsten Ausdruck geben – wie sich überhaupt die Partitur durch größte Gerechtigkeit gegenüber den Protagonisten auszeichnet. Ausnahmslos jede handelnde Figur hat ihre lyrische oder, im Fall des Teufels, infernalische Arie und ihre Szene. Sog. Regieeinfälle gibt es also nicht; nur am Ende bricht so etwas wie eine Störung ein: Vuk wird schließlich, als Ehrenzeichen, ein Modell des Prager Nationaltheaters überreicht, woraufhin er offensichtlich plötzlich einen stechenden Kopfschmerz bekommt, nachdem der überwunden geglaubte Teufel ihn mit seinem roten Leuchtstab behext hat: ein symbolisches Abbild also des völlig ertaubten Komponisten, der die nächste projektierte Oper nicht mehr vollenden sollte anderthalb Jahre nach der Premiere im Irrsinn starb. Ansonsten sehen wir auf eine von David Bazika entworfene, sehr praktikable, nichts an szenischem Aufwand vermissenlassende schlichte Bühne aus schräg gestellten grauen Wänden und am Ende eine zentrale, den guten Schluss ankündigende Treppe. Während der Ouvertüre sehen wir das wohl bekannteste Fotoporträt Bedřich Smetanas: noch komplett, dann – das passt zum Thema des quasi verdoppelten Teufels und zum zu lösenden Konflikt – auseinandergerissen; in der Folge werden bei den Auftritten Rarachs die einzelne Kopfteile Smetanas blutrot beleuchtet – am Ende fügt sich das Foto, wie selbstverständlich, wieder zusammen. Naives Theater, natürlich, aber die Hommage an den großen Musiker wirkt, wenn man nicht ganz gefühllos ist, schier bewegend. Was das rein Musikalische betrifft, lässt die Aufführung kaum einen Wunsch offen: das Orchester des DJKT spielt unter Jiří Štrunc einen Smetana, „wie ihn sich der Smetana-Freund nur wünschen kann“ (wie ich schon aus Anlass des Kusses bemerkte): leidenschaftlich, rhythmisch agil, kammermusikalisch fein, wo’s benötigt wird. Abgesehen von der wichtigen Rolle der Hedvika, die mit Ivana Veberová leider wieder zu ältlich und vokal sehr eng besetzt ist, verfügt man am Haus über eine hervorragende Riege von Sängern: der Vok ist mit Jiří Hájek, der mir als Prager Don Giovanni noch in guter Erinnerung ist, mit seiner Mischung aus Stärke und Sensibiliät ideal besetzt, der Jarek des Martin Šrejma ist keine zweite, sondern eine erste Rolle; wunderbar seine lyrischen und gleichzeitg „männlichen“ (wie man früher sagte) Episoden. Ganz wunderbar und schlichtweg zum Verlieben, weil sie ihre lyrische Emphase estklassig fokussiert: die Katuška der Radka Sehnoutková, die auch in Gestalt einer vom Teufel inszenierten Verführerin ihren Michalek becircen darf. Gleichermaßen elegant artikulierend: die kleine, aber allein mit einer guten Sängerin zu besetzende Hosenrolle des Záviš, die – kurzes Schäkern mit einem hübschen Chormädchen inbegriffen – durch Jana Foff Tetourová glänzt. Der kleine gute Chor des DJKT darf unter Jakub Sloup von Neuem zeigen, was guter Ensemblegesang ist, so dass selbst die, von heute aus betrachtet, politisch unkorrekte Kommunikation zwischen den Frauen, die sich ihrem Herren andienen, und ihren eifersüchtigen und gewaltbereiten Männern in ihrer unbefangenen szenischen Interpretation akzeptabel ist; am Ende ist alles große Musik. Der Michálek ist eine komische, also vokal scheinbar anspruchslosere Rolle, die von Tomáš Kořínek mit Szenenbeifall beschieden wird, weil er nicht nur im Rahmen der naiven Oper gut spielt, sondern auch prägnant singt.

© Martina Root

Schließlich und endlich Beneš und Rarach, ohne die das Stück nicht stattfinden würde. Sie spielen gewissermaßen die Hauptrollen: Jan Hnyk und Jiří Sulženko. Die beiden Bassisten müssen zwar in der berühmten Szene, in der sie dem Vuk hintereinander als jeweils Gleiche zu erscheinen haben, gleichzeitig auftreten, was dem Ganzen einen anderen, wenn auch nicht dümmeren Sinn verleiht. Vokal sind sie, bei aller Verschiedenheit der auch akustisch differierenden Charaktere, gleichgestellt: Hnyk mit seinem dramatisch durchdringenden Organ, mit dem er auch die dramatisch entscheidende Beichtszene gestaltet, Sulženko mit seinem weicheren, doch die Bombenrolle des Teufels völlig ausfüllenden Stimme. Doch ist er nur, wenn überhaupt, einer der führenden Sänger. Smetanas letzte Oper zeichnet sich ja auch dadurch aus, dass der Komponist zusammen mit seiner Librettistin, die weniger schlecht war als man gewöhnlich wahrnimmt, seinen Menschen, auch den dämonischen, immer Gerechtigkeit wiederfahren lässt. An diesem Premierenabend prasselt am Ende der lange Beifall zurecht auf alle nieder – auch auf die Tänzer, die als Oktett die zweigesichtigen Teufelsböcke chargieren, nachdem sie schon teilweise als seltsame schwarze Statisten-Gestalten über die Bühne gelaufen waren.

Zugegeben: auch eine Art Regieeinfall. Die Pilsener Interpretationskunst zeigt sich bei den Werken des Jubilars vor allem als Dienst an einem Werk, das aufgrund seiner szenischen Klarheit und seines musikalischen Reichtums nicht der Ausdeutungen bedarf, obwohl gerade die Teufelswand mit ihrer bemerkenswerten Doppelung der Charaktere, dem Schwur des Ritters und der Liebe des alten Herren zur jungen Tochter der einst unglücklich geliebten Frau prächtige Steilvorlagen für psychologische Deutungen liefert. Dass man sie in Pilsen nicht benötigt, weil man ein meist sehr gutes Ensemble zur Verfügung hat, lässt die Vorfreude auf die nächste Smetana-Premiere nur größer werden.

Frank Piontek, 21. Oktober 2024


Čertova stěna / Die Teufelswand
Bedřich Smetana

J.K. Tyl-Theater Pilsen

Premiere: 19. Oktober 2024

Inszenierung: Jiří Nekvasil
Musikalische Leitung: Jiří Štrunc
Orchester und Chor des des J.K. Tyl-Theaters Pilsen