Lieber Opernfreund-Freund,
die so genannten „Opernzwillinge“ Cavalleria rusticana und Pagliacci sind noch bis Mitte Februar in Oldenburg zu erleben. Dietrich W. Hilsdorf ist mit seiner Lesart ein packender Opernabend gelungen, der den Operndauerbrennern auch nach über 130 Jahren noch Spannung abgewinnt.
Hilsdorf zeigt die beiden Kurzopern als das, zu dem sie im Laufe jahrzehntelanger Aufführungspraxis geworden sind: als ein einziges Werk, das am Morgen des ersten Ostersonntags nach dem zweiten Weltkrieg, dem 21. April 1946 im sizilianischen Dorf Vizzini, dem Schauplatz der Cavalleria rusticana, mit dem Ständchen von Turridu im Morgengrauen beginnt und dort kurz nach 11 Uhr abends – Sie erinnern sich: die Schauspielvorstellung im Bajazzo beginnt um 23 Uhr – mit dem Doppelmord an Nedda und ihrem Geliebten Silvio endet. Diesen genialen Schachzug dokumentiert Hilsdorf im Einheitsbühnenbild von Dieter Richter, das die Piazzetta S. Teresa im genannten Dorf südlich von Catania zeigt, anhand der großen, seitlich angebrachten Uhr, sowie dem minutengenau auf Sonnenauf- und -untergang abgestimmten Licht von Steff Flächsenhaar. Den Prolog der Pagliacci hat er dem kompletten Abend vorangestellt, denn auch in der Mascagni-Oper geht es um eben die echten Gefühle, denen sich der Verismo verpflichtet fühlt. Hilsdorf mixt beide Werke – die stoische Emotionslosigkeit und die Verbitterung der Mama Lucia von Annekathrin Kupke beispielsweise, darf sich am Ende der Pagliacci endlich entladen – und bestückt seine Inszenierung mit beiläufigen Szenen aus dem echten Leben wie Spaziergängern und tobenden Kindern. So fühlt sich der Zuschauer den ganzen Abend in der Mitte des Geschehens, die Grenzen zwischen Realität und Spiel verschwimmen schon in der Cavalleria rusticana. Das macht diese Version der beiden oft gesehenen Opern absolut erlebenswert.
Auf der Bühne überzeugt das Ensemble des Oldenburgischen Staatstheaters mit beherztem Spiel ebenso wie mit exzellentem Gesang. Allen voran zieht Kihun Yoon, der als personifizierter Prolog den Abend eröffnet, das Publikum von der ersten Sekunde in seinen Bann. Sein satter Bariton verleiht dem Alfio in der Cavalleria etwas Ehrfurcht Gebietendes. Man nimmt dem Südkoreaner den wütenden gehörnten Geschäftsmann ebenso ab, wie den verliebten Krüppel Tonio im Bajazzo, der aus Rache den Weg zum unheilvollen Ende bereitet – Yoon ist in jeder Sekunde ein echtes Erlebnis! Turiddu wird von der Regie als gewissenloser Typ gezeichnet, der nicht nur die schwangere Santuzza sitzen lässt, sondern auch der eigenen Mutter die schwer verdienten Groschen stiehlt. Jason Kim setzt das mit sicherer, metallisch funkelnder Höhe um; darstellerisch überzeugt er mich dabei nicht so sehr wie sein Landsmann Yoon, auch als Canio mag ich ihm den tiefen Schmerz nicht so ganz abnehmen. Ann-Beth Solvang zeichnet die Santuzza voller Herzblut, ihr satter Sopran kommt voluminös daher; so gestaltet sie ihre Figur in den zarten-flehenden Momenten ebenso überzeugend, wie in den furiosen Ausbrüchen. Die Nedda von Martyna Cymerman gefällt mir mit ihren strahlenden Höhen und wird im Lauf der Pagliacci zur kämpferischen Frau voller vokaler Kraft, die gegen Canios Unterdrückung aufbegehrt. Bis in die kleinste Rolle wird gestern in Oldenburg engagiert und voller Inbrunst gesungen und gespielt, dabei bleibt mir vor allem der samtene Bariton von Nikola Diskic als Silvio im Ohr.
Der Chor, von Thomas Bönisch exzellent betreut, gestaltet gestern nicht nur die Kulisse, sondern wird zum wichtigen Hauptakteur, singt dabei präzise und überzeugend. Im Graben entfacht Vito Cristofaro ein italienisches Feuerwerk voller bekannter Melodien, ohne dabei in weichgespültes Einerlei abzugleiten. So entfacht er bei den Musikerinnen und Musikern des Oldenburgischen Staatsorchesters so viel Glut, wie sie das Sängerpersonal auf der Bühne zeigt. Wer also Gelegenheit hat, eine der beiden verbliebenen Vorstellungen in dieser Spielzeit zu besuchen, sollte diese nutzen.
Ihr Jochen Rüth, 9. Januar 2023
„Cavalleria rusticana“ / „I Pagliacci“ Pietro Mascagni / Ruggiero Leoncavallo
Staatstheater Oldenburg
Premiere: 19. März 2022 / besuchte Vorstellung: 8. Januar 2023
Inszenierung: Dietrich W. Hilsdorf
Musikalische Leitung: Vito Cristorfaro
Oldenburgisches Staatsorchester
Weitere Vorstellungen: 21.1. und 19.2.