Es ist die zweite Wiederaufnahmeserie. Erneut sind alle sechs Vorstellungen ausverkauft, was bemerkenswert ist bei einem Stück, von dessen Existenz selbst eifrige Operngänger bis zur Frankfurter Premiere 2021 nichts ahnten. Die Premierenserie fand noch unter Corona-Beschränkungen mit einer Begrenzung der Zuschauerzahl pro Vorstellung auf 200 statt. Die überwältigende Kartennachfrage für die erste Wiederaufnahmeserie vor einem Jahr mochte man noch auf einen Nachholeffekt zurückführen, auf den neugierigen Wunsch, die von Kritikern hymnisch besprochene Produktion selbst zu erleben. Diese Eindrücke haben offensichtlich den Ruf eines außerordentlichen Musiktheatererlebnisses gefestigt, so daß man inzwischen von einer Kultinszenierung sprechen kann.
Zu verdanken ist dieses wunderbare Weihnachtsgeschenk dem Regisseur Christof Loy. Er hatte, wie er in dem wie immer gut gemachten und informativen Produktionsvideo erzählt, eine Schallplattenaufnahme dieser musikalischen Rarität entdeckt und Feuer gefangen. Das Stück nach einer Erzählung von Nikolai Gogol verwebt Märchen und Mythen der ukrainischen Folklore mit komödiantischen Szenen und überwölbt dies mit einer Liebesgeschichte. Der Schmied Wakula begehrt die schöne Oksana. Die erweist sich als kapriziös und stellt dem Verehrer die Aufgabe, ihr die Schuhe der Zarin als Brautgeschenk zu bringen. Das gelingt ihm schließlich mit Hilfe des Teufels, der ihn durch die Lüfte zum Zarenhof fliegen läßt. Zuvor hatte der Teufel Wakulas Mutter Solocha, einer attraktiven Hexe, die Liebschaften zur gesamten männlichen Dorfprominenz unterhält, vergeblich dabei Hilfe geleistet, die Verbindung des jungen Paares zu vereiteln. Mond und Sterne hatten die beiden dazu bei einem Himmelsritt geraubt, das Dorf so in Finsternis getaucht und obendrein einen Schneesturm entfesselt. Diese märchenhaft verworrene Geschichte wird noch mit Elementen eines heidnischen Mythos zur Wintersonnenwende angereichert, in welchem böse Geister sich einen Kampf mit den Frühlingsgottheiten liefern.
Der erste Coup der Inszenierung ist, daß sie dem Märchen nahezu ungebrochenen Raum gibt. Der Teufel hat einen Schwanz, die Hexe einen Besen, und dies wird weder ironisch verfremdet, noch irgendwie in Anführungsstriche gesetzt. Es wirkt aber auch weder kindisch noch altbacken, weil gerade die Märchenszenen das Publikum mit schwindelerregender Akrobatik zum Staunen bringen. Gleich zu Beginn reiten Hexe und Teufel vom rauchenden Kamin eines Daches aus in den Himmel. Der Flug des Schmieds zum Zarenhof durch die Lüfte vollzieht sich ebenfalls vor den staunenden Augen des Publikums, und auch das Treiben der heidnischen Geister und Gottheiten spielt sich in schwindelerregender Höhe ab. Schon für die bravouröse Flugchoreographie von Tänzern und Sängern an dünnen Drahtseilen (Stuntkoordination von Ran Arthur Braun) lohnt sich ein Besuch der Aufführung immer wieder.
Der zweite Coup der Inszenierung ist der ausgiebige Einsatz klassischen Balletts, sogar mit Spitzentanz und Tutu. Klevis Elmazaj hat sich dazu phantasievolle Choreographien ausgedacht, die sich organisch in die Inszenierung einfügen. Diese poetischen Momente werden kontrastiert von handfesten Komödienszenen, deren Volkstheaterhumor Christof Loy lustvoll ausspielen läßt.
Die Regie verzichtet insgesamt weitgehend auf Deutungen, Metaebenen oder Aktualisierungen, läßt das Stück für sich sprechen und bringt es zum Leuchten. Sie präsentiert pralle Tableaus und poetische Bilder. Johannes Leiacker hat dazu ein Einheitsbühnenbild entworfen, welches sich als ideale Spielwiese für den funkensprühenden Einfallsreichtum der Regie erweist. Auf einem transparenten Zwischenvorhang wird ein nächtlicher Sternenhimmel mit kosmischer Weiterung gezeigt. Der raffiniert schlichte Bühnenkasten erweist sich als dessen Negativ: auf hellem Grund funkeln schwarze Sterne. Je nach Bedarf wird dieser hohe und helle Raum mit wenigen Requisiten ausgestattet. Die Kostüme von Ursula Rezenbrink zitieren dezent ukrainische Tracht, in der Szene am Zarenhof zeigen sie prächtige Barock-Ballkleidung.
Der Frankfurter Studienleiter Takeshi Moriuchi hat erneut die musikalische Leitung übernommen und läßt es insgesamt eher gemächlich angehen. Wie schon im letzten Jahr hat man den Eindruck, daß das Orchester ein wenig Zeit braucht, um Tritt zu fassen und an den Klangzauber anzuknüpfen, den im Premierenzyklus der vormalige Generalmusikdirektor Sebastian Weigle heraufbeschworen hatte. Wie im letzten Jahr gibt es einen Hornkiekser gleich zu Beginn, so daß man meinen könnte, dieser sei womöglich einkomponiert.
In der Hauptrolle der Oksana gibt es ein Rollendebüt. Monika Buczkowska-Ward singt sie mit klarem Sopran und fügt sich gut in die Reihe der bewährten Kräfte ein. Enkelejda Shkoza überzeugt erneut mit dunkel abgetöntem, üppigem Mezzo als Hexe Solocha. Georgy Vasiliev scheint als Wakula mit einer Indisposition zu kämpfen, so daß neben saftigen Tenortönen auch immer wieder eine leichte Belegtheit und gelegentlich sogar ein Überschlagen der Stimme zu bemerken sind. Andrei Popov ist mit seinem hellen Charaktertenor wieder eine treffliche Besetzung für den Teufel. Mit seiner charakteristisch hellen Stimme zeigt Peter Marsh erneut den bigotten Geistlichen als scharf umrissene Karikatur. Beide haben aber gelegentlich eine Neigung zum Chargieren. Sebastian Geyer dosiert mit seinem Kavaliersbariton in der Partie des Bürgermeisters den Humor etwas feiner, aber nicht minder wirkungsvoll. Freude bereitet auch wieder Bianca Andrew, die mit ihrem edel timbrierten Mezzo der Zarin Anmut und Noblesse verleiht. Oksanas Vater Tschub gibt wie im Vorjahr Inho Jeong und beeindruckt erneut mit seinem saftigen, sonoren und tiefensicheren Baß ebenso wie mit seiner Spiellaune. Auch Changdei Park als Panas und Thomas Faulkner als Pazjuk präsentieren wieder profundes Baßmaterial. Der von Álvaro Corral Matute vorbereitete Chor singt die vielen Volkslied-Zitate kraftvoll aus.
Dieses erfrischende und herzerwärmende Gesamtkunstwerk aus Musik, Spiel, Tanz und Akrobatik wird vom Publikum erneut mit Beifallsstürmen gefeiert. Nachdem Rimski-Korsakows Instrumentalzauber für Märchenwelten nun ihre Zugkraft erwiesen haben, wäre es lohnend, weitere seiner Opern mit den enormen Möglichkeiten des Frankfurter Hauses einem aufgeschlossenen Publikum zu präsentieren. Vielleicht könnte man im nächsten Jahr mit dem Schneeflöckchen anfangen. Davon gab es unter Bernd Loebes Intendanz in Erl bereits eine viel gelobte Produktion.
Michael Demel, 10. Dezember 2024
Die Nacht vor Weihnachten
Nicolai Rimski-Korsakow
Oper Frankfurt
Wiederaufnahme: 6. Dezember 2024
Premiere: 5. Dezember 2021
Regie: Christof Loy
Dirigat: Takeshi Moriuchi
Frankfurter Opern- und Museumsorchester