8. September 2019
Rossini und Shakespeare?
Geht das? Schnarrende Räderwerk-Musik zu tiefgründigem Drama? Es geht – und wie! Die Frankfurter Produktion von Rossinis opera seria ist der Hammer und beweist einmal mehr, wie wichtig es ist, Vorurteile immer wieder schnell über Bord zu werfen, Augen, Ohren und Geist unvoreingenommen zu öffnen. Sicher, Verdis späte Oper OTELLO ist ein unangefochtenes Meisterwerk, dank Boitos Libretto viel näher bei Shakespeare als Rossinis 1816 uraufgeführte Oper. Doch es gilt zu bedenken, dass Rossini zur Zeit der Komposition 24 Jahre alt war, am Laufband produzieren musste (deshalb übernahm er auch immer wieder Nummern und Passagen aus anderen Werken und fügte sie in neue Stücke ein, so z.B. ist die Ouvertüre zu OTELLO mit Passagen aus IL TURCO IN ITALIA und SIGISMONDO bestückt). Zudem waren Shakespears Werke zur damaligen Zeit einem breiteren Publikum nur in sehr stark veränderten Fassungen bekannt, auf die sich auch Rossinis Librettist Francesco Maria Berio berief. Verdi hingegen hatte zur Zeit der Komposition seines OTELLO keinerlei Druck mehr, hatte die Galeerenjahre weit hinter sich, war ein ausgesprochener Shakespeare Kenner und hatte mit Arrigo Boito einen ausgewiesenen Literaten (und Komponisten!) zur Seite. Somit sind die beiden Kompositionen dieser Giganten der italienischen Oper eigenständige Werke, die zwar den Titel gemeinsam haben, ansonsten aber nicht verglichen zu werden brauchen.
Der Regisseur Damiano Michieletto hatte Rossinis OTELLO im Bühnenbild von Paolo Fantin und mit den Kostümen von Carla Teti 2016 im Theater an der Wien vorgestellt und diese Produktion nun für die Oper Frankfurt neu einstudieren lassen (Marcin Lakomicki). Michieletto hat dabei den Text ganz genau untersucht und daraus auf sinnige Art eine leicht veränderte Figurenkonstellation geschaffen, welche während der Ouvertüre auf dem Gazevorhang präsentiert wird, während die Personen eine nach der anderen in den mit blassrosa Marmorwänden und mit Kristalllüster ausgestatteten Salon treten. Das hat ein bisschen was von einem Vorspann zu einer TV Serie à la Dynasty oder Dallas, zumal Michieletto aus dem Stoff ein familiäres Generationendrama (bei den Reichen und Mächtigen) gestaltet. Emilia (ganz hervorragend gesungen und gespielt von Kelsey Lauritano) ist nicht mehr die Freundin und Vertraute Desdemonas, sondern wird zur kleinen, fiesen und falsch spielenden Schwester – und tatsächlich gibt der Text das her!
Jago wird als verhaltensauffälliger (ADHS?) Cousin Rodrigos eingeführt, ein Außenseiter in dieser Business-Schickimicki-Gesellschaft, genau wie Otello, der hier als geschäftstüchtiger Muslim zwar von der Gesellschaft umworben, nicht aber geachtet wird. Somit haben wir also zwei Familienstränge (einige Szenen sind gar streng symmetrisch gespiegelt gestaltet!), in denen je ein Vater-Kind Konflikt aufbricht, nämlich auf der einen Seite der Doge (hier ein Minister im Rollstuhl) und sein Heulsusen-Sohn Rodrigo, auf der anderen Seite den reichen Industriellen Elmiro mit seinen beiden Töchtern Desdemona und Emilia. Desdemona ist die Träumerin, die von der großen Liebe schwärmt (mehr davon später) und Emilia eben die selbstbezogene, ambitionierte, hinterfotzige Speichelleckerin. Dazu die beiden Außenseiter Otello und Jago, welche ihren Platz in diesen Familien nicht finden können (dürfen). Das alles setzt Michieletto mit bezwingender Subtilität und gekonnter Personenführung um, die Handlung wirkt glaubhaft, vom Anfang bis zum Schluss spannend, was auch daran zu spüren war, dass das Publikum mit größter Konzentration (und Ruhe!!!) dem Geschehen auf der Bühne folgte!
Zur stimmigen Umsetzung dieses Regieansatzes benötigt man natürlich exzellente Sängerdarsteller – und die standen hier an der Oper Frankfurt wahrhaftig zur Verfügung. Rossini hat es ja den heutigen Intendanten mit seinen Besetzungsanforderungen wahrlich nicht leicht gemacht, denn welches Theater kann schon mal auf Anhieb drei Tenöre für die musikalisch anspruchsvollen Rollen des Otello, des Rodrigo und des Jago aufbieten? Dazu fordert Rossini noch zwei Tenöre für den Dogen und den Lucio/Gondoliere. Die Besetzung all dieser Partien in Frankfurt lässt mehr als aufhorchen: Enea Scala gestaltet die Titelrolle großartig. Sein geschmeidiger Tenor überwindet alle Klippen, ist von der Mittellage an abwärts wie gefordert baritonal gefärbt und verfügt aber auch über eine unbelastete, mühelose Höhe. Dazu kommt sein erfrischendes Spiel, man nimmt ihm den etwas naiven Muslim und Strahlemann, der er zu Beginn ist, ab. Dabei zeichnet Michieletto ihn nicht nur als Gutmenschen, der den Fremdenhassern ins Messer läuft. Auch Otello wird übergriffig, wenn er Desdemona einfach so mal das Kopftuch aufzwingt, was natürlich die westliche Gesellschaft zu Recht erbosen lässt. Theo Lebow macht aus dem Jago eine gekonnte Persönlichkeitsstudie eines verhaltensauffälligen Kindes, das nie seinen Platz in der Gesellschaft finden wird und deshalb zu ganz fiesen Mitteln greift, stets auf der Suche nach Opfern, die er noch mehr demütigen kann, als er selbst wohl in seinem Leben gedemütigt worden war. Überwältigend gemacht ist das Finale I, wo Jago den Otello sinnbildich mit der schwarzen Farbe des Misstrauens infiziert. Diese Farbe (oder ist es das berüchtigte Schwarze Gold, welches man sich von Otello verspricht und um das sich nun alle gierige blagen?) breitet sich dann nach und nach über sämtliche Anwesenden auf der Bühne aus, alle beschmieren sich gegenseitig, baden quasi im verheissungsvollen Öl und kündigen so den unheilvollen Verlauf der Akte II und III an. Im zweiten Akt lernt man dann endlich auch den dritten Tenor näher kennen, den Rodrigo. Schon im ersten Akt ließ ein a parte gesungener Einwurf aufhorchen. In seiner großen Szene im zweiten Akt dann wurde dieser Eindruck bestätigt: Welch ein fantastischer Tenore di grazia, eine Anmut, eine Biegsamkeit und eine stupende Höhensicherheit gepaart mit weicher Linienführung, Eleganz in Phrasierung und jugendlichem Aplomb. Brillant setzt er Koloraturenketten, setzt subtile Fiorituren ein, alles kontrolliert, nie exaltiert: Zum Niederknien, diesen Jack Swanson gilt es im Auge und im Ohr zu behalten!!! Hier in diesem zweiten Akt kommt es zu einem wahren Festival der Tenöre, wenn Jago und Rodrigo aufeinandertreffen und sich später dann Rodrigo und Otello die hohen Töne nur so um die Ohren schmeißen. Klasse, das ist Oper, deshalb lieben wir sie doch so!
Eine ganz große schauspielerische Leistung vollbringt der vierte Tenor, Hans-Jürgen Lazar, als an den Rollstuhl gefesselter Doge. Trotz oder gerade wegen seiner Behinderung strahlt dieser Doge von Herrn Lazar eine enorme Bühnenpräsenz und Autorität aus, auch wenn niemand seinen Herzanfall im Finale I beachtet. Die andere Vaterfigur, Elmiro, wird von Thomas Faulkner mit sauber geführtem, wohlklingendem Bass gesungen. Zwar ein Unsympath, wie er seine Tochter Desdemona behandelt und Emilia bevorzugt, doch mit balsamischer Stimme ausgestattet.
Die vorgesehene Sängerin der Desdemona musste leider die ersten vier Vorstellungen krankheitsbedingt absagen. Eingesprungen ist keine geringere als Starsopranistin Nino Machaidze. Die Georgierin sang die Partie bereits 2016 im Theater an der Wien. Sie verfügt über eine hoch interessant gefärbte, ausdrucksstarke Stimme und ist natürlich für die Rolle dieser sich in Träume und Visionen flüchtende Desdemona eine umwerfende Idealbesetzung. An der Wand im Vorzimmer zum Salon hängt ja in dieser Inszenierung das Gemälde von Gaetano Previati Der Tod von Paolo und Francesca, welches die Episode über Francesca da Rimini aus Dantes Göttlicher Komödie illustriert, wo die beiden Liebenden Francesca und Paolo vom Schwert des Ehemannes der Francesca, Malatesta, gemeinsam durchbohrt werden. Desdemona nun imaginiert immer wieder, dass die Figuren aus dem Bild lebendig werden, ihr zur Seit stehen oder sie ihr Schicksal teilen muss. Desdemona ist also hier eine Frau am Rande des Wahnsinns und der Depression dahinschrammend, unverstanden von Familie und Gesellschaft. So ist es am Ende nur folgerichtig, dass sie nicht dem eifersüchtigen Otello zum Opfer fällt, sondern sich selbst richtet. Davor aber singt sie noch das so traumhaft subtil intonierte Lied von der Weide (inspiriert vom schönen Gesang des Familienarztes Lucio alias Michael Petruccelli, dem fünften der exzellenten Tenöre, der ihr einen Medikamentencocktail überreicht).
Sesto Quatrini dirigiert einen farbenreichen, wunderbar austarierten Rossini, spritzig, aber auch melancholisch, mit federnden Tempi. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester glänzt mit herrlich sauberen und virtuosen Passagen in den Bläsern und kultiviertem Streicherklang. Der sehr eindrücklich singende Chor der Oper Frankfurt wurde von Carla Teti mit den üblichen dunklen Businessanzügen für die Männer eingekleidet, aber bei den Kostümen für die Damen durfte die Kostümdesignerin dafür die Augen des Publikums mit eleganten, fantasie- und geschmackvoll konzipierten Kleidern belohnen.
Wenn man bei Rossinis Werk eine Schwachstelle erwähnen müsste, dann wäre es der Schluss. Das wird irgendwie alles zu schnell und zu oberflächlich abgehandelt, wie wenn Rossini keine Zeit mehr gehabt hätte, um das genauer auszuführen. Michieletto hat verdienstvollerweise wenigstens versucht, durch den Suizid Desdemonas dem Ganzen eine interessante und schlüssige Wendung zu geben.
Fazit: Spannend, intelligent, fantastische Sänger = HINGEHEN!!!
Kaspar Sannemann 12.9.2019
(c) Barbara Aumüller