Köln: „Die Entführung aus dem Serail“

Premiere am 13.03.2022 (StaatenHaus Saal 3)

Eine nächtliche Reise in das Unterbewusste

StaatenHaus Saal 3

Georg Kehren, Chefdramaturg und Stellvertretender Intendant an der Kölner Oper, stimmte das Publikum in seiner Einführung zur Premiere von Mozarts 1782 uraufgeführtem Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ darauf ein, sich von liebgewonnenen Erwartungen frei zu machen und sich zu öffnen für eine Sichtweise, die in einermodernen Interpretation den märchenhaften, fast kindlichen und eher simplen Stoff vor alles unter psychologischen Aspekten neu befragt.

Die in Mozarts Zeit aufgrund der noch nicht vergessenen Bedrohung durch das OsmanischeReich allgegenwärtige orientalische Note in Theater und Musik, die Darstellungunterschiedlicher kultureller Wertsysteme in Morgen- und Abendland spielen denn auch inKai Anne Schumachers Regiekonzept wenn überhaupt nur eine ganz untergeordnete Rolle. Esgeht der jungen Regisseurin nicht um das Bassa Selim, einem Orientalen mit europäischen Wurzeln, in den Mund gelegte aufklärerische Gedankengut von Toleranz, Vernunft und Humanität, wie es auch Lessing in der berühmten Ringparabel seines fast zeitgleichveröffentlichten Dramas „Nathan der Weise“ formuliert hat, sondern um die Beziehung zwischen Konstanze und Belmonte. Und diese ist alles andere als einfach.

Im Mittelpunkt der Inszenierung stehen deshalb Fragen nach Liebe und Treue, nach Geschlechterrollen und Selbstverständnis, steht letztlich die Suche nach Identität und Selbstfindung der Protagonisten. Rainer Mühlbach, der die musikalische Leitung an diesem Abend in den Händen hält, sieht vor allem in den Arien der Konstanze eine „Tiefe und Differenziertheit“ (Programmheft), die einen solchen Ansatz legitimiert.
Die von Kai Anne Schumacher und Rainer Mühlbach erstellte Fassung von Mozarts Singspiel zielt in den Kürzungen und behutsamen Eingriffen in Mozarts Geniestreich darauf ab, die seelische Befindlichkeit der Hauptfiguren noch stärker zu akzentuieren, z.B. wenn Belmonte in seiner großen Arie „Wenn der Freude Tränen fließen“ sich Konstanze ganz nah fühlt und die Klänge einer Gitarre vernimmt, in denen seine Melodie durch Konstanzes Gitarrenspiel erwidert wird.

Diese Nähe will sich zu Beginn der Handlung zwischen den jungen Leuten
nicht einstellen. Das Bühnenbild (Dominique Wiesbauer) zeigt ein wie nach einer
Kissenschlacht unaufgeräumtes Schlafzimmer, in dem vor allem Konstanze eine unruhige, von Träumen und Visionen belastete Nacht verlebt und eine Reise in das Innere beginnt. Das Serail ist nun ein Ort der Intimität und Verführung, und Bassa Selim, der im Outfit eines Zauberers bei dieser phantastischen Reise als Spielführer auftritt, erweist sich nicht nur einmal als Alter Ego Belmontes. Auf jeden Fall verhilft er Konstanze dazu, sich ihrer selbst zu vergewissern und aus manchen Abhängigkeiten und Zwängen zu befreien.

Auch Blondchen bestärkt Konstanze darin ihren eigenen Weg zu gehen. Der grimmige Wächter Osmin fungiert – so Kai Anne Schumacher – als innerer Manipulator Belmontes, der alles in Bewegung setzt, die Selbstfindung und
Weiterentwicklung der jungen Menschen, auch derjenigen von Blondchen und Pedrillo, zuverhindern. Er scheitert mit seinen primitiven Rachephantasien, aber als die jungen Leute am Ende aus ihren Träumen und Visionen in die Realität zurückfinden und sich am Morgen nach dieser turbulenten Nacht verunsichert in die Augen schauen, da sind viele Fragen offen und viele Zweifel bleiben.

Valerie Hirschmann hat für diese phantastischen Nachtphantasien grellbunte, karnevaleske Kostüme entworfen und hier ganz nebenbei Diversität und Geschlechterrollenzuweisung thematisiert. Rein optisch (Licht: Nicol Hungsberg) lässt jedenfalls diese Aufführung keinen Raum für Langeweile und bedient auch das humoristische Potential, das Mozart dieser Oper implementiert hat. In phantasievollem Schattenspiel verlängert sich z.B. der Arm von Bassa
Selim um mehrere Meter, um Belmonte mit schwarzer Krallenhand am Eindringen in den Palast zu hindern, der wie von Zauberhand durch Seile und Winden aus den herumliegenden Betttüchern am Bühnenhintergrund geformt wird. Effektvoll ist auch, wie Konstanze plötzlich in die Höhe schwebt, während sich der durch die herumliegenden Tücher verlängerte Rock ihres Kleides durch ein verstecktes Gebläse optisch eindrucksvoll aufplustert.

Das junge Ensemble an diesem Abend spielt und singt mit Begeisterung und Hingabe. Alle Künstler rsind aus dem „Internationalen Opernstudio der Oper Köln“
hervorgegangen oder gehören diesem noch an. Kathrin Zukowski ist eine stimmlich und auch schauspielerisch ganz wunderbare Konstanze, die gerade im Mozartfach noch von sich reden machen wird. Ihre Interpretation der Marternarie braucht den Vergleich mit der Darbietung durch große Vorbilder nicht zu scheuen. SeungJick Kim als Belmonte meistert die ungemein schwierigen Tenorarien seiner Partie mit Bravour. Seine weiche, höhensichere Tenorstimme scheint für das Mozartfach wie geschaffen.

Die irische Sopranistin Rebecca Murphy gibt ein putzmunteres Blondchen, Dustin Drosdziok als Pedrillo erfreut durch seine Spiellaune und seine klangschöne Tenorstimme. Lucas Singer, der den Osmin verkörpert, zählt schon seit
Jahren zum festen Ensemble der Oper Köln, ist also bereits ein „alter Hase“, fügt sich aber mit sonorer Bassstimme in das turbulente Geschehen der beiden jungen Liebespaare ganz natürlich ein. Florian Reiners schließlich verleiht der Rolle des Bassa Selim beeindruckend schillernde, vielgestaltige und diabolische Züge.

Rainer Mühlbach, dem Dirigenten dieses Abends, gebührt ein besonderes Lob. Als Leiter des „Internationalen Opernstudios“ kennt er die Sängerinnen und Sänger durch die gemeinsame Arbeit vieler Jahre zwar sehr gut, die Positionierung des Orchesters zwingt ihn aber dazu, mit dem Rücken zur Bühne zu dirigieren. Es ist schon erstaunlich, wie gut trotz dieser widrigen Umstände das Zusammenspiel von Orchester, Chor, Sängerinnen und Sängern gelingt. Dass Mühlbach ein großer Verehrer und ausgesprochener Kenner der Opern Mozarts ist, bewies er
auch an diesem Abend. Gürzenichorchester und Chor der Oper Köln (Bang-In-Jung)
begeisterten jedenfalls durch ein transparentes, luftiges, da wo nötig auch expressives und dynamisches Musizieren.

Die Besucher im restlos ausverkauften Saal 3 des Staatenhauses sparten
nicht mit lang anhaltendem Beifall und vielen Bravos für alle Beteiligten. Die moderne Lesart des Regieteams stieß ganz offensichtlich bei den meisten auf große Zustimmung.

Weitere Aufführungen: 19.03., 27.03., 02.04., 07.04.
Norbert Pabelick
(14.03.2022)