Florenz: „Linda di Chamounix“

Teatro del Maggio Musicale 27.1. (Streaming)

In Florenz hat sich Intendant Alexander Pereira für eine Aufzeichnung der im Streamingdienst zu sendenden Vorstellungen entschieden. Gaetano Donizettis Werk ist demgemäß ab 15.1. für ein Monat zu sehen gewesen. Es wurde im Wiener Kärntnertortheater am 19. Mai 1842 mit solchem Erfolg uraufgef1ührt, dass dem Bergamasker Meister das Amt eines K.k.-Kammercompositeurs zuteil wurde (und Donizetti in einem Brief an seinen Schwager stolz darauf verwies, dass diese Stelle einst Mozart innehatte). Die Wertschätzung für unseren Komponisten zeigte sich auch in der luxuriösen Starbesetzung mit Eugenia Tadolini in der Titelrolle, der Altistin Marietta Brambilla als Pierotto, dem Tenor Napoleone Moriani (Carlo) und dem von Verdi später für die Uraufführung von „Macbeth“, „Rigoletto“ und „Traviata“ gewählten Felice Varesi (Antonio).

Die Handlung mag heute teilweise überholt erscheinen, aber eben nur teilweise. Sie spielt im 17. Jahrhundert in Savoyen, einem wirtschaftlich darniederliegenden Gebiet, wo es außer Landwirtschaft nichts gab, und dessen junge Burschen im Herbst nach Paris wanderten, um dort – oft als Straßensänger – ein wenig Geld zu verdienen. Im Frühsommer kehrten sie zurück, um ihre kargen Einkünfte der Familie auszuhändigen. Natürlich unterstanden diese Älpler jeweiligen Feudalherren. Linda, die in den bescheidenen Maler Carlo verliebt ist, muss sich der Avancen des Marquis von Boisfleury erwehren, weshalb der Präfekt des Dorfes veranlasst, dass sie von Pierotto, einem der nach Paris Ziehenden, in die französische Hauptstadt mitgenommen wird, um sich eine Arbeit zu suchen. Carlo ist in Wirklichkeit ein Visconte di Sirval, der Linda in einer schönen Wohnung unterbringt, ohne von ihr fleischliche Gegenleistungen zu verlangen. Auf der Suche nach seiner Tochter ist ihr Vater Antonio bis zu ihr vorgedrungen, allerdings ohne sie zu erkennen. Linda gibt ihm ein Almosen, aber schließlich bricht es aus ihr heraus, und sie zeigt sich dem Vater. Dieser muss angesichts der Umgebung annehmen, dass sie eine Kurtisane ist und verflucht sie. Pierotto bringt die Nachricht, dass der Visconte im Begriff ist, sich mit einer anderen zu vermählen, worauf Linda den Verstand verliert. Pierotto bringt sie nach Chamounix zurück, wo wir erfahren, dass sich der Visconte dem Willen seiner Mutter widersetzt und die Heirat nicht akzeptiert hat. Nun ist er auf der Suche nach Linda, und als er schließlich das Lied singt, mit dem sie in glücklichen Zeiten ihre Liebe bekräftigten, ist sie von ihrem Wahnsinn geheilt, und es gibt ein Happyend.

Überholt ist das Sujet sicherlich im Hinblick auf eine Vatergestalt, die die Tochter aus moralischen (Vor)Urteilen heraus verflucht. So gar nicht überholt ist die Figur des sozial Höhergestellten, der sich eine Untergebene zu Willen machen möchte. Der Marquis von Boisfleury taucht nämlich auch in Lindas Appartement in Paris auf und versucht sie vergeblich mit dem bekannten Repertoire aus Schmeicheleien und schlecht verhüllten Drohungen zu verführen. Bezeichnend dafür, wie das 19. Jahrhundert solche Figuren sah, ist, dass es sich beim Marquis um eine Bufforolle handelt (weshalb die Oper im Libretto von Gaetano Rossi auch als „melodramma semiserio“ bezeichnet wird). Es gibt etliche dieser Rollen, eine besonders perfide ist z.B. der Podestà in Rossinis „Diebischer Elster“.

Da hätte die Möglichkeit bestanden, in der Regie heutiges Gedankengut einzubringen, ohne gleich die ganze Handlung zu verfälschen. Leider wurde diese Chance nicht genützt, denn Cesare Lievi ließ altmodisches Steh- und Schreittheater spielen, das eigentlich nur von zwei Künstlern dank Persönlichkeit überwunden werden konnte, doch davon später. Das Bühnenbild von Luigi Perego erinnerte mit seinen Schattenrissen für den Chor im 1. und 3. Akt an die von Giorgio Strehlers Inszenierungen her bekannten Wirkungen und hatte viel Atmosphäre. Der 2. Akt zeigte ein sozusagen im Nichts befindliches weißes Haus mit blauer Tapete, das in seiner Art akzeptabel war, auch wenn es sehr kleinbürgerlich wirkte, was man immer noch damit begründen könnte, dass der Visconte Lindas Vorstellungen von einem gemütlichen Heim entgegenkommen wollte. Weniger geglückt waren Peregos Kostüme, vor allem hinsichtlich Linda. Die junonische Erscheinung der Titelrollensängerin wurde mit einem „cul de Paris“ noch unterstrichen.

Nach einer kurzen Aufwärmphase sang Jessica Pratt ausgezeichnet das berühmteste Stück der Oper, das für Paris hinzukomponierte „Oh luce di quest’anima“. Die Künstlerin befand sich in bester stimmlicher Verfassung und erfreute bei wenigen Schärfen mit wendigen Koloraturen ebenso wie mit schön gestalteten lyrischen Bögen. Ein guter Regisseur hätte ihr bei der Darstellung behilflich sein müssen. (Dass das möglich ist, zeigte sie mit ihrer auch szenisch brillanten Zerbinetta vorigen Sommer in Martina Franca). Auch Francesco Demuro als Carlo/Visconte kam über die üblichen Tenorgesten nicht hinaus. Man hörte einen angenehmen Tenor, der aber nicht sehr effektvoll eingesetzt wurde, obwohl er seine sovracuti tapfer bewältigte. Hervorragend hingegen Teresa Iervolino als Pierotto. Sie schenkte mit ihrem warmen, stabil geführten Mezzo der Figur große Menschlichkeit, auch harmonierte ihre Stimme bestens mit der von Pratt. (Ungeklärt blieb, warum sie im 2. Akt mit weiß geschminktem Clownsgesicht auftreten musste). Und wenn schon von starken stimmlichen Persönlichkeiten die Rede ist, muss sofort auch Michele Pertusi als Präfekt genannt werden, der seine mahnenden Worte in balsamischer Schönheit erklingen ließ. Der ins Buffofach gewechselte Fabio Capitanucci war der anlassige (für die deutschen Leser: zudringliche) Marquis, den er korrekt sang, aber die Zwiespältigkeit der Figur nicht im Alleingang aufzeigen konnte (nochmals: welche Möglichkeiten, wenn die Figur beim Happyend singt „Ora sarò un signor zio“ = Jetzt werde ich ein wunderbarer Onkel sein!). Als Vater Antonio stellte Vittorio Prato eine rührende Figur auf die Bühne, seinem Bariton hätte aber eine nachdrücklichere Tiefe gut getan. Marina De Liso war eine gute Maddalena, Lindas Mutter.

Der junge Michele Gamba (wie in Italien üblich ebenso mit Maske wie die Orchestermusiker, natürlich mit Ausnahme der Bläser, und vor allem so wie der Chor, der mit Maske tun musste, als würde er essen – denkt ein Regisseur da nicht daran, wie nahe das Publikum dank der Kameras ist?) war Donizetti ein ausgezeichneter Sachwalter und ließ die zahlreichen inspirierten Einfälle des Komponisten wunderbar aufblühen(natürlich kann da nur von dem per Streaming vermittelten Klang die Rede sein). Ich möchte hier speziell auf das Duett Antonio/Präfekt hinweisen oder auf den Schluss des 1. Akts mit den auf die Walz‘ ziehenden jungen Leuten. Aber auch die Tenorarie „Se tanto in ira agli uomini“ hat wundervolle Melodien. Im Ganzen für mich jedenfalls ein Werk, das in seiner musikalischen Qualität zu den besten Opern Donizettis zählt und auch vom Inhalt her viele Anregungen für eine durchdachte Regie bieten würde. (Noch zum Thema Missbrauch: Vor seiner Hochzeit mit einer anderen dringt der Visconte in Linda, sich ihm hinzugeben. Das tugendhafte Mädchen widersteht. Hätte sie nachgegeben, hätte ihr Geliebter vermutlich mit der anderen Braut das Weite gesucht). Die nicht mit Applaus zu bedankenden Künstler zeigten sich vor dem Vorhang mit Musikbegleitung.

Eva Pleus 30.1.20

Bilder: Michele Monasta / Maggio Fiorentino