Vorstellung am 18.5.2015
Es gibt gewisse Opern, um die Intendanten gerne einen großen Bogen schlagen. Dazu gehört „Le Cid“ von Massenet. Das breitere Opernpublikum kennt seit Maria Callas die inzwischen sehr beliebte Arie „Pleurez mes yeux“ und immer mehr Tenöre singen in ihren Konzerten „O souverain, ô juge , ô père“, doch anscheinend hat nur noch Placido Domingo die Oper ganz gesungen (und mit Grace Bumbry 1976 zum ersten und einzigen Mal auf Platte aufgenommen). Außer einem Konzert 1981 mit Domingo ist „Le Cid“ seit 1919 nicht mehr in Paris gespielt worden und auf die oft gestellte Frage, warum es beinahe ein Jahrhundert gedauert hat, antwortete die Pariser Oper: „wir fanden einfach nicht die geeigneten Sänger“. Es ist Roberto Alagna zu verdanken, dass „Le Cid“ nun wieder aufgeführt wird. Er hat die schwere Rolle 2011 in Marseille ausprobiert, in einer Inszenierung, die nun wieder aufgenommen wird. Nun aber mit dem großen Dirigenten Michel Plasson und einer völlig neuen Besetzung aller anderen Rollen. Alles wurde getan, damit Alagnas erstaunlich spätes Debüt im Palais Garnier so gut wie möglich verlaufen konnte.
Denn „Le Cid“ (1885) ist bei aller Schönheit in vieler Hinsicht ein schwieriges Werk. Es liegt zeitlich ganz nah an „Manon“ (1884) und „Werther“ (1892), den beiden bekanntesten und erfolgreichsten Opern von Massenet, doch ist von einer ganz anderen Art. Wir haben heute fast vergessen, dass Jules Massenet über 25 Opern (!) komponiert hat, in denen er alle „genres“ mehr oder weniger erfolgreich ausprobierte. Neben den Werken für sein Stammhaus, die Opera Comique, träumte Massenet von „großen Opern“ für die „grande boutique“, wo sein „Roi de Lahore“ 1877 einen Triumph feierte und seine „Herodiade“ 1881 abgelehnt wurde. Die Ablehnung hatte anscheinend mehr mit dem Thema als mit der Musik der Oper zu tun, und so wählte Massenet für sein nächstes Projekt ein Sujet, das um 1880 ganz Paris begeisterte: Spanien. Das Land hinter den Pyrenäen mit Blick auf Afrika wurde damals mit dem „wilden Orient“ identifiziert und die Pariser Orientalisten reisten nach Granada, um dort in der Alhambra ihren Fantasien freien Lauf zu lassen mit sinnlichen Haremsdamen und blutüberströmten Henkern, Löwen und Leoparden – die irgendwann alle durch keusche katholische Ritter zivilisiert wurden. Dieses Spanien-Fieber erfasste auch die Komponisten, denn es gab damals mindestens vier Cid-Projekte, die ungefähr zur gleichen Zeit bei der Pariser Oper eingereicht wurden. Bizet schrieb einen (unvollendeten) „Don Rodrigue“, der bis heute anscheinend noch nirgendwo gespielt wurde, und Debussy eine Oper, „Rodrigue et Chimène“, die erst 1993 in Lyon aufgeführt wurde (und danach anscheinend nie mehr). Während der Komposition von Massenets „Cid“ wurden auch die „Symphonie Espagnole“ von Eduard Lalo und Chabriers „Espana“ uraufgeführt – ein höchst interessanter Kontext, der leider in dem Programmheft der Oper nicht einmal erwähnt wird. (Das könnte doch ein inspirierendes Thema für ein Musikfestival sein!) Da Massenet so akribisch auf seinen Manuskripten notierte, wann und wo er was geschrieben hat, wie das Wetter war, wie einsam und traurig er sich fühlte (weil seine Frau auf Kur war, weil er 43 wurde etc), wissen wir ganz genau, woher die „spanischen Motive“ im „Cid“ kommen: aus einer Hafenkneipe in Marseille, gleich neben dem Hotel Beauveau, und von einer billigen „Posada“ in Barcelona, in der die ganze Nacht getanzt wurde. Massenet spielte der damaligen Prima Ballerina der Pariser Oper, Mlle Rosita Mauri, die Themen vor, und so entstanden die sieben Ballette des zweiten Aktes: „1. Castillane, 2. Andalouse, 3. Aragonaise, 4. Aubade, 5. Catalane, 6. Madrilène, 7. Navarraise“. Die Ballette waren für das damalige Opernpublikum der prägendste Augenblick des Abends und wurden deswegen besonders sorgfältig komponiert und orchestriert. Doch leider werden sie heute beinahe überall gestrichen – eigentlich ein Skandal in Häusern in denen diese Werke uraufgeführt wurden und wo es eigene Ballett-Kompanien gibt. So wurden die Ballette auch in dieser Produktion in Marseille gestrichen. Doch der Dirigent setzte anscheinend durch, dass einige Striche geöffnet wurden und dirigierte die Ballette nun vor geschlossenem Vorhang.
Doch bis es zu den schönen Balletten kam, musste man sich wohl erst zwei Akte große historische Troubadour-Oper anhören, mit Chören, Märschen und Szenen, wo Ritter in glänzenden Rüstungen vor Königen knien und sich vor dem versammelten Hofstaat zehn Minuten in Ekstase allein mit ihrem Schwert unterhalten. Schon die stattliche Ouvertüre – sehr untypisch für Massenet – annonciert einige Durststrecken in den ersten beiden Akten. Doch in den letzten „ tableaux “ wird aus dem fanatischen Soldaten Rodrigue, der bereit ist für sein Vaterland zu sterben und der wegen der Familienehre den Vater seiner Verlobten im Duell erstochen hat, ein Zweifler. Aus „ le cid “ (in Arabisch „der Sieger“) wird ein Melancholiker – und Massenet benutzte viele Themen aus seinem „Werther“, den er schon 1877 komponiert hatte, und der erst 1892 in Wien uraufgeführt werden würde. Auch Chimène hat sich am Anfang des dritten Aktes gewandelt, und ihre berühmte Arie „ Pleurez ! pleurez mes yeux “ erinnert nicht nur thematisch an Charlottes Tränenarie im „Werther“. Das sind die stärksten Momente des Werks. Hier entfaltet sich das Genie von Massenet, den sein erster Biograph, Luis Schneider, schon 1908 „ le musicien de la femme et de l’amour “ nannte. Für Frauen und Liebe „in allen Formen“ („mystisch oder sinnlich, idealistisch oder romantisch“) hatte Massenet, so wie er es selbst bekannte, „ein besonderes Gespür“. Für Männer, Krieger und Soldaten deutlich weniger und was er dem Titelhelden alles in die Kehle schrieb, kann den größten Tenor überfordern. Roberto Alagna sagte dazu in einem Interview: „Massenet scheint es einem beinahe extra schwer machen zu wollen: der Tenor kommt auf die Bühne, sagt drei Worte und legt dann los mit „ O noble lame “, eine Arie die sehr hoch liegt, als ob sie für Otello [von Verdi] geschrieben wurde. Dazu gleich schon auf der vierten Note ein hohes B, das man vor vollen Orchester und 120 Choristen [in Paris nur 60] singen soll – ohne vorheriges Einsingen!“. Und während Chimène sich (wie Isolde) auch mal ausruhen darf, steht Rodrigue fast den ganzen Abend auf der Bühne (wie Tristan). Kein Wunder, dass seit Enrico Caruso und Georges Thill kaum ein Tenor sich an diese Rolle gewagt hat. Placido Domingo war wunderbar, aber er hat wohl – es sei ihm verziehen – viele Arien runtertransponiert, während Alagna sie nun alle ohne Striche gesungen hat, im Originalton und jedes Mal mit dem richtigen Stil. Sogar in der heldischen Arie „ O noble âme étincellante “ – über zehn Minuten lang! – floh Roberto Alagna nicht in veristischer Kraftmeierei, sondern entwickelte Nuancierungen und Differenzierungen, mit auch mal einem piano und einer mezza voce . Natürlich ist seine Stimme in nun schon dreißig Jahren Karriere dramatischer, um nicht zu sagen „metallischer“ geworden. Doch dieses helle Metall in der Höhe entspricht genau dem Typus des „französischen Heldentenors“. Und sieben „Bilder“ später sang Alagna mehr als eine Oktave tiefer ein sehr berührendes „
Ah tout est fini… Ô souverain, ô juge, ô père“. Das war der absolute Höhepunkt des Abends: wirklich große Gesangskunst! Wir kennen zurzeit keinen anderen Tenor, der ihm das nachmacht.
Sonia Ganassi hatte es als Chimène vergleichsweise leichter, weil Massenet sich in beinahe jede seiner Titelheldinnen verliebte und wunderbare Melodien für seine Traumfrauen komponierte. Doch die Rolle der Chimène besteht nicht nur aus der großen Arie „Pleurez mes yeux“ und sie hat, wie Rodrigue, einen viel zu großen Ambitus: für einen Sopran liegt sie zu tief, für einen Mezzo zu hoch. Auch Maria Callas hat nur Arien von Chimène gesungen, nie die ganze Rolle. Für diese Produktion hatte man Anna Caterina Antonacci verpflichten können, theoretisch eine Idealbesetzung. Doch ein Jahr vor Probenanfang gab die Sängerin die Rolle zurück mit der Begründung sie sei „zu schwer“. So übernahm Sonia Ganassi, und sie tat das so gut wie möglich. Doch nach der Première gab auch sie (in professionellen Kreisen) bekannt, dass sie Chimène nicht mehr singen will. Wir können nur große Bewunderung aussprechen, denn man hat ihr diese Mühe auf der Bühne nicht angesehen und – abgesehen von einigen schrillen Spitzentönen – auch nur begrenzt angehört. Annick Massis glänzte als Infantin in ihrer Arie „Plus de tourments et plus de peine“ (die man 2011 in Marseille gestrichen hatte). Bei dieser Gelegenheit sieht man wieder, wie wichtig der Dirigent für eine gute Sängerleistung ist. Denn im Dezember haben wir sehr kritisch über Annick Massis berichtet. In Rossinis „Moïse et Pharaon“ (in Marseille, Merker XII/2014) stolperte sie über jeden Stein – und jetzt strahlte sie in der Höhe wie vor zwanzig Jahren. Dank sei dem guten Dirigat brachten auch die anderen Sänger Höchstleistungen: Paul Gay als Don Diègue, Nicolas Cavallier als König und Laurent Alvaro als Comte de Gormas – alles Bässe, was auch erklärt warum Rodrigue in fast jedem Ensemble mitsingen musste.
Michel Plasson dirigierte souverän den Chor und das Orchester der Oper. Im letzten Merker schrieben wir, dass Plasson wahrscheinlich für diese Musik „der größte lebende Dirigent ist“. Das hat sich bestätigt, auch wenn sein Dirigat uns nicht wirklich umgehauen hat (gerade in der Ouvertüre und den ersten beiden „heldischen“ Akten). Doch was kann man bei so einer „grand-opéra“ auch an Nuancen anbringen? Die letzten beiden Akte waren wirklich wunderbar. Ähnliches kann man über die Inszenierung von Charles Roubaud sagen. Sie zeigte ein solides Handwerk, dem wir leider immer seltener begegnen. Roubaud verlegte die Handlung in das Spanien von Franco, ohne dass er die Geschichte mit unnötiger Politik überfrachtete. (Was hätte man in deutschen Landen heute nicht alles inszeniert bei einem „Krieg zwischen Christen und Arabern“!?). Er wusste souverän mit den vielen Ensembles und Chorszenen umzugehen und war vor allem sehr „sängerfreundlich“. Das stilvolle Bühnenbild von Emmanuelle Favre, ganz exzellent beleuchtet von Vinicio Cheli, war aus Holz und projizierte die Stimmen nach vorne, über das große Orchester. Die Sänger fühlten sich sichtlich wohl in den historischen Kostümen von Katia Duflot, die manchen kleinen Bauch oder großen Busen gut kaschierten. Alles in allem ein gelungener Abend und ein Triumph für den inzwischen geschassten Intendanten Nicolas Joël, der es wagte das Werk nach einem Jahrhundert wieder auf den Spielplan zu setzen. Denn entgegen aller Prognosen war „Le Cid“ die einzige Produktion der Pariser Oper, die schon Monate im Voraus restlos ausverkauft war. So wie es Rodrigue auf der Bühne sagt: „wer wagt, gewinnt“!
Bilder (c) OdP
Waldemar Kamer, Paris / 19.5.2015
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