Nancy: „Semiramide“, Gioachino Rossini

am 2.5.2017

Drei Mal in einer Spielzeit: nach Florenz und München nun in Nancy mit einem besonderen Cast

Die babylonische Königin Semiramis soll angeblich eine „femme fatale“ der übelsten Sorte gewesen sein: erst zwang sie ihren Mann zum Selbstmord, um als junge Witwe den König heiraten zu können. Und einmal zur Königin gekrönt, brachte sie den König um, trieb es mit allen Generälen und heiratete zuletzt ihren einzigen Sohn. Doch dem erschien im Ehebett der Geist seines ermordeten Vaters – bis er endlich den heiligen Dolch nahm, um seiner Mutter und Geliebten die Kehle durchzuschneiden und sich danach selbst umzubringen. Ein inspirierendes Sujet für viele Opern! Das Libretto von Pietro Metastasio „Semiramide riconosciuta“ (1729) wurde mehr als dreißig Mal vertont – bis hin zu Gluck (1748), Salieri (1782) und Meyerbeer (1819). So wollte Gioachino Rossini auch eine „Semiramide“ schreiben und tat es 1822 in nur 33 Tagen, natürlich für Isabella Colbran, die er kurz zuvor geheiratet hatte und der er viele Rollen direkt „in die Kehle“ schrieb.

Diese Kehle muss recht einzigartig gewesen sein, denn auch andere Komponisten schrieben große Rollen speziell für die Colbran, als sie noch die „prima donna assoluta“ des Teatro San Carlo in Neapel war, wo Johann Simon Mayr „Medea in Corinto“ (1813) für sie komponierte. Als die Colbran verstummte, um mit ihrem Mann in Paris wunderbare Kochbücher zu schreiben, übernahmen ihre Kolleginnen ihre Paraderollen und wurde „Semiramide“ im neunzehnten Jahrhundert fast überall auf der Welt gespielt. Bis sie um 1900 in der „Met“ in New York zum letzten Mal gesichtet wurde. Sie kehrte erst 1962 an die Scala zurück, dank Richard Bonynge und Joan Sutherland, die zusammen mit Marilyn Horne eine Platte aufnahmen, die viele Intendanten inspirierte. So landete „Semiramide“ 1980 in Aix-en-Provence, in der legendären Produktion von Pier Luigi Pizzi, mit Montserrat Caballé (Semiramide), Marilyn Horne (Arsace) und Samuel Ramey (Assur) – das war anscheinend das letzte Mal, dass „Semiramide“ in Frankreich auf einer Bühne zu sehen war (Konzertfassungen nicht mitgezählt).

Eine Generation später scheint die lüsterne Königin aus Babylon wieder in den Träumen mehrerer Intendanten erschienen zu sein. Denn nun kehrt sie gleich vier Mal in einem Jahr auf die europäischen Opernbühnen zurück: im Oktober 2016 in Florenz (in einer älteren Produktion von Luca Ronconi aus Neapel mit Jessica Pratt), im Februar in München (in einer neuen und recht eigenwilligen Produktion von David Alden mit Joyce di Donato, die im November in London wieder aufgenommen werden wird – siehe Merker 3/2017) und nun in Nancy. Wir freuen uns doppelt: Einerseits, dass die Intendanten allgemein wieder mehr an die weniger bekannten Opernwerke denken und andererseits, dass ein relativ kleines Haus wie Nancy, nun selbstbewusst im Konzert der großen europäischen Opernhäuser mitspielt.

Dafür braucht man vor allem eine gute Sängerbesetzung. Die war sicher nicht leicht zu finden: alle Sänger debütierten in ihren Rollen. Die georgische Salome Jicia ist ein Rossini-Sopran von internationalem Format, die schon in Pesaro als Comtesse de Folleville des „Voyage à Reims“ und als Elena der „La Donna del Lago“ zu hören war. Ihr Italienisch ist perfekt – man versteht wirklich jedes Wort -, ihre Technik tadellos – die verschiedenen Stimm-Register sind in Harmonie, ihre Triller lupenrein – und auch noch in der längsten „Cabaletta“ der Semiramide produziert sie nicht nur ein Feuerwerk an hohen Tönen, sondern macht auch noch Musik. Den argentinischen Counter-Tenor Franco Fagioli braucht man nicht mehr vorzustellen. Seine Besetzung als Arsace – es ist anscheinend das allererste Mal, dass diese Rolle mit einem Counter besetzt wird – sorgte für ein Rauschen im Blätterwald der Musikpresse. Denn Rossini hatte keine Affinität zu Kastraten: in seinen mehr als hundert Opernrollen gibt es nur eine einzige für einen solchen Mann: ein gut bezahlter Auftrag. Rossinis Abkehr hatte autobiographische Gründe: wegen seiner ganz wunderbaren Knabenstimme, mit der er schon Geld verdiente als seine Mutter wegen einer Entzündung der Stimmbänder ihre Sängerkarriere beenden musste, wäre er beinahe selbst kastriert worden – und hatte für den Rest seines Lebens eine Phobie gegen alles, was nur annährend mit diesem Thema zu tun hatte.

Doch gleich in seiner Auftrittsarie singt Franco Fagioli alle unsere Bedenken von der Bühne. Er ist eben kein üblicher Counter: seine Stimme ist viel größer als die seiner meisten Kollegen, er kommt mühelos über das große Orchester und – für uns das Wichtigste – seine Stimme harmoniert ganz wunderbar mit der von Salome Jicia. Das nicht-enden-wollende Liebesduo von Semiramide und Arsace war der Höhepunkt des Abends, indem sich die beiden Sänger mit großem „raffinement“ die Bälle zuwarfen. Da konnte Nahuel Di Pierro als dritter im Bunde nicht ganz mithalten. Seine Partie als Bösewicht Assur war ja auch nur komponiert, um der Liebe im Himmel der Soprane einen teuflischen Hintergrund zu geben. In seinen beiden Arien zeigte der argentinische Bass dagegen eine wirklich eigene – und berührende – Rollengestaltung. Auch der italienische Bass Fabrizio Beggi konnte als Oroe und als Geist des ermordeten Königs mit einer wunderbaren Samt-Stimme prunken. Im Vergleich dazu klang der Tenor Matthew Grills aus dem Ensemble der Bayerischen Staatsoper etwas einfarbig als Idreno – aber das lag sicher auch an dem sehr verständlichen Premierenstress vor einem Parterre von Dutzenden Rezensenten, Agenten und Intendanten, die teilweise von fern nach Nancy angereist waren.

Bei einer solchen Sängerriege kann man sich nur über die Wahl des Regisseurs und des Dirigenten wundern. Hier wäre jemand mit Rossini-Erfahrung am Platz gewesen. Doch weder die deutsche Regisseurin Nicola Raab noch der venezolanische Dirigent Domingo Hindoyan scheinen Erfahrung oder eine besondere Affinität für diese Musiksprache zu haben. Das Regiekonzept von Raab ist weder Fisch noch Fleisch: Sie verzichtet ganz auf die berühmten, durch Semiramis angelegten Babylonischen Gärten, auf die immer wieder besungenen Baal-Tempel etc., und verlegt die Handlung in das Requisitendepot auf der Hinterbühne eines Theaters, in dem irgendwann einmal ein „Kostümschinken“ gespielt wurde und die alten Kostüme noch herumliegen, die nun mit viel Aufwand immer wieder an- und ausgezogen werden. So singt „Semiramide“ ihre Sterbensarie mit dem Oberteil eines alten Kostüms, während sie unten noch ihre „Unterhose“ anhat. Von Personenführung oder Rollengestaltung keine Spur. Die Ausstattung von Madeleine Boyd (Bühne) und Julia Müer (Kostüme) hat niemanden überzeugt, aber sie ist zumindest nicht so unmusikalisch und so störend, so wie vor zwei Monaten in Rossinis „Armida“ in Montpellier, in der die dortige Regisseurin die Handlung auf ein Fußballfeld verlegt hatte und wir – bei aller Liebe für seltene Opern, irgendwann auch einmal des „Regietheaters“ müde – auf eine Rezension verzichtet haben. Hindogan, dem sympathischen „El Sistema“ entsprungen, dirigiert mit Verve und Temperament, schwitzt dabei viel, trinkt Wasser etc.

Nur wenn man die Augen schließt, hört man ein Provinz-Orchester, das Schwierigkeiten mit den vielen kleinen Noten hat. Zugegeben: die Rossininische „Leichtigkeit“ ist nicht leicht zu spielen. Doch da haben wir das Orchestre symphonique et lyrique de Nancy unter ihrem neuen Chefdirigent Rani Calderon schon besser gehört. Auch der Chor schleppte furchtbar. Als Antwort auf dieses Problem nahmen Dirigent und Regisseur den Rotstift und strichen mehr als ein Viertel der Oper – die in ihrer Originalfassung länger als „Parsifal“ ist. So konnte die so selten gespielte „Semiramide“ nur wenige der Reize entfalten, die sie sorgsam unter ihrem geheimnisvollen Schleier verborgen hält. Zugegeben: Nicht alle Männer fielen sofort vor Begeisterung in Ohnmacht wenn der Schleier gelüftet wurde. Als schon ein halbes Jahr nach der Uraufführung in Venedig, „Semiramide“ 1823 in Wien gespielt wurde, meinte Beethoven kritisch: „Lieber Rossini, versuchen Sie bitte nicht etwas Anderes zu komponieren als den „Barbiere di Siviglia“. Für eine Geschichte wie „Semiramide“ fehlt Ihnen das musikalische Vokabular.“ Diesen Ausspruch werden wir erst dann kommentieren können, wenn wir „Semiramide“ voll und ganz gesehen und gehört haben. Das Festival in Pesaro kündigt eine Neuproduktion für 2018 an, unter der kompetenten Leitung van Michele Mariotti. Wir sind gespannt! Waldemar Kamer

Alle Fotos © Opéra national de Lorraine

Waldemar Kamer, Paris

Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online

Noch bis zum 11. Mai 2017, Info: www.opera-national-lorraine.fr

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