Nancy: „La belle Hélène“, Jacques Offenbach

am 14.12.2018

Ein Doppeljubiläum mit einer höchst interessanten Ausstellung über dreihundert Jahre Oper in Nancy

Francesco Galli da Bibiena: Entwurf der ersten in Nancy erbauten Oper, vor 1709 (Musée du Louvre)

Am 14. Oktober 1919 wurde die heutige Oper in Nancy eingeweiht mit „Sigurd“, das damals sehr beliebte Hauptwerk des französischen Wagnerianers Ernest Reyer. Und am 7. November 1709 wurde die allererste Oper in Nancy – die damals als eine der prachtvollsten in ganz Europa galt – mit „Le Temple d’Astrée“ von Henry Desmarets, einem Schüler Lullys, eingeweiht. Um dieses Doppeljubiläum zu feiern, haben die Stadt und die Oper eine prächtige Ausstellung über dreihundert Jahre Oper in Nancy organisiert, mit vielen recht unerwarteten Querverbindungen nach Wien.

Denn der Erbauer der ersten Oper, der Herzog Leopold von Lothringen und Bar, war als Neffe von Kaiser Leopold I in Wien erzogen worden und heiratete bei seinem Amtsantritt in Nancy die einzige Nichte von Ludwig XIV – per Prokuration, da er so viel Abstand wie möglich zu dem übergriffigen Onkel seiner Frau halten wollte. Deshalb gab er auch den Prestige-Auftrag nicht an einen französischen Architekten, sondern an Francesco Galli da Bibiena, der gerade die erste Hofoper in Wien erbaut hatte. Den überaus prächtigen Saal mit einer für damalige Verhältnisse enorm tiefen Bühne von 45 m kann man nun in der Ausstellung auf alten Zeichnungen aus dem Musée Lorrain, dem Musée du Louvre und dem Metropolitan Museum in New York bewundern, die der überaus kundige Ausstellungs-Organisator Pierre-Hippolyte Pénet zum ersten Mal zusammengeführt hat. Die erste Oper sorgte für „überregionales Interesse“, nicht nur wegen der innovativen Theatertechnik und den prachtvollen Inszenierungen Bibienas – inzwischen am Wiener Hof zum „Ersten Theatral-Ingenieur“ berufen – sondern auch, weil bei seiner Verzierung gewisse Embleme benutzt wurden, die an der verschiedenen Höfen für viel Getuschel sorgten. So prangte über der herzoglichen Loge das goldene Vlies – ein Habsburg-Orden, den man nicht an Ludwig XIV verliehen hatte. Der prunkvolle Saal wurde schon nach 20 Jahren wieder abgerissen, als Franz-Stefan von Lothringen nach dem Polnischen Thronfolgekrieg mit seiner jungen Gattin, der späteren Kaiserin Maria Theresia, nach Florenz zog und wirklich alles aus Nancy mitnahm, was nicht niet – und nagelfest war – darunter alle Bühnenbilder Bibienas. Die bewegte Opern-Geschichte endet drei Jahrhunderte später bei der heutigen Oper, die 1906 in Auftrag gegeben wurde, nachdem der vorige Saal abgebrannt war – nach einer Probe von „Mignon“ von Ambroise Thomas, das gleiche „Unglücks-Werk“, nach dem auch 1887 die Opéra Comique in Paris abgebrannt war. Aus verschiedensten Gründen dauerte der Neubau, für den man unbedingt einen elsässischen Architekten wollte, schließlich 13 Jahre. Man kann nun in der Ausstellung sehen, was leider alles wegen unterschiedlichster Proteste nicht gebaut wurde (ein Freilufttheater im danebenliegenden Park) und was aus Geldmangel nie wirklich vollendet wurde (die geplanten Verzierungen im Treppenhaus, das Deckengemälde des Saales etc). Eine höchst interessante Opern-Reise mit einem absolut lesenswerten Katalog (25 €).

Für seine letzte Spielzeit als Intendant, erinnert sich Laurent Spielmann nach einer beeindruckend langen Karriere, dass es in Frankreich für den „réveillon“ traditionell eine „Belle Hélène“ gibt – erst die „opéra bouffe“ und dann beim Festessen danach das nach ihr benannte Dessert. Und da das Kulinarische im Vordergrund steht, gibt es meist auch eine gut verdauliche Inszenierung. So haben wir vor drei Jahren an Weihnachten von einer „Belle Hélène“ in Toulon berichtet, die in den Jahren zuvor schon in Metz und Saint-Etienne zu sehen war. Die Provinztheater tauschen ihre Offenbachs aus und es wird so inszeniert, dass es überall passt und gefällt. Wirklich originelle Inszenierungen der „Belle Hélène“ sind in diesem Kontext eher selten, wie die unvergessliche Produktion von Laurent Pelly am Théâtre du Châtelet in Paris oder die von Mariame Clément an der Opéra du Rhin in Straßburg. Die jetzige Neuproduktion von Bruno Ravella hat auch einen eigenen Ansatz: die Geschichte wird origineller Weise aus der Perspektive des schönen Paris erzählt. Während des Vorspiels bekommt er vom Geheimdienstchef in Troia einen „Top-Secret-Auftrag“: er soll die schöne Königin Helena in Sparta 1. verführen, 2. entführen, damit 3. endlich wieder ein schöner Krieg ausbricht. Pâris als James Bond!

Das Konzept geht auf, dank des jungen Tenors Philippe Talbot, der uns in den letzten Jahren in Paris schon öfters positiv aufgefallen ist. So schrieben wir über seinen Alfred in der „Fledermaus“, dass er „so fulminant sang, dass man Rosalindes Ausspruch versteht: „Ich könnte sterben für einen Tenor!“. – Endlich einmal eine Abschiedsszene vor den Polizisten bei der es wirklich „knistert“!“ Talbot ist eine Ideal-Besetzung als Pâris: absolut höhensicher, jung, sexy und extrem spielfreudig als „James Bond“, der sich in den unterschiedlichsten Verkleidungen (gute Kostüme von Gabrielle Dalton) immer wieder in die Handlung einschleicht – auch noch als Taucher und per Helikopter! Es knisterte wunderbar zwischen ihm und der jungen kanadischen Sängerin Mireille Lebel, die genau so gut aussah wie er und ohne Peinlichkeiten die Rolle der „schönsten Frau der Welt“ spielen konnte – in dieser Inszenierung abwechselnd mit Grace Kelly, Evita Perron und Brigitte Bardot identifiziert. Denn das ist das erste, was die Franzosen von einer „schönen Helena“ erwarten: dass sie nicht nur ihre Beine, sondern auch ihren Busen und ihren Bauchnabel zeigt. Denn bei der Uraufführung 1864 war die berühmte Hortense Schneider gerade 31 Jahre alt. Und wie man es seitenlang im Roman „Nana“ von Emile Zola nachlesen kann, beruhte ein Großteil der Faszination, die sie auf ihr Publikum ausübte (273 Vorstellungen!) auf ihren „Rundungen“…

Die Gefolgsdamen sahen ebenso gut aus: Sarah Defrise als köstlich spielende Bacchis (sehr lustig die durch Alain Perroux umgeschriebenen Dialoge) und Léonie Renaud & Elisabeth Gillming als Parthoénis & Léona. Doch danach scheint dem Regisseur irgendwie die Puste ausgegangen zu sein, denn die Gefolgsmänner waren viel weniger charakterisiert als die Damen. So spielten & sangen Erich Huchet als Ménélas, Franck Leguerinel als Agammenon, Raphaël Brémard als Achille und auch Boris Grappe als Oberpriester Calchas Operettenkönige, so wie wir sie etwas zu oft gesehen und gehört haben. Das lag vielleicht auch an der sehr präsenten und leider auch furchtbar banalen Choreographie von Philippe Giraudeau, einem alten Bühnen-Routinier, von dem wir mindestens ein gutes Dutzend Tanzeinlagen in Erinnerung haben. Dieses viele Gehüpfe erklärt wahrscheinlich auch so manchen verpatzten Einsatz des Chores.

Laurent Campellone dirigierte mit sehr viel Verve das Orchester. Es war nicht nur ein Vergnügen ihm dabei zuzuschauen, so gut haben wir dieses Orchester – das in Erwartung des nächsten Intendanten keinen Musikdirektor mehr hat – schon lange nicht mehr gehört. Im Februar folgt nun eine nächste Welturaufführung, „7 Minuti“ von Giorgio Battistelli, der schon 2008 „Divorce à l’italienne“ für Nancy komponiert hat und im Oktober „Sigurd“ von Reyer. Alte Werke, neue Werke, Uraufführungen – „jedes Jahrhundert produziert seine Meisterwerke“ sagt der scheidende Intendant Laurent Spielmann – und in Nancy kann man nun fast alles zeitgleich erleben.

Bilder (c) ONL

Waldemar Kamer 19.12.2018

Noch bis zum 23. Dezember 2018, Info: www.opera-national-lorraine.fr

Ausstellung bis zum 24. Februar 2019, Info: www.nancy.fr