Lyon: „Festival Mémoires“

vom 16.-18.3.2017

L’INCORONAZIONE DI POPPEA

Théâtre National Populaire, Villeurbanne

Seit zehn Jahren bietet die Oper von Lyon alljährlich im Frühling ein kleines Festival an, das entweder einem Komponisten (Janácek und seine Frauenfiguren, Offenbach, Kurt Weill von Berlin bis New York, Puccini und seine Zeitgenossen, Tschaikowsky und Puschkin, Mozart und Da Ponte, Benjamin Britten in drei Phasen seines Schaffens), einem Genre (Operneinakter), einem Land und seiner Kultur (Japan) oder einem bestimmten Thema (Recht und Ungerechtigkeit, Verlorene Helden, Geheimnisvolle Gärten, Menschlichkeit) gewidmet ist. Als der Intendant der Oper von Lyon, Serge Dorny, vor einem Jahr das Programm des diesjährigen Festivals präsentiert hat, mag so mancher Kulturjournalist wohl nur müde gelächelt haben. Unter dem Titel „Mémoires“ wollte er drei Opernproduktionen, die seiner Meinung nach Operngeschichte geschrieben haben, von bereits verstorbenen Regisseuren neu einstudieren lassen und einem Publikum von heute neu zur Diskussion stellen. Drei legendäre Musiktheateraufführungen, deren Schöpfer in die Fußstapfen von Brecht und Felsenstein traten und doch neue Wege begingen. Wie wird das Publikum von heute durch den Spiegel der Zeit diese Meilensteine der Operngeschichte betrachten? Ein interessanter Ansatz, der zumindest beim Publikum vollen Anklang gefunden hat.

Mit ungewöhnlichen Problemen war man bei der Neueinstudierung der Produktion von Klaus Michael Grüber, die dieser 1999 für das Festival von Aix-en-Provence geschaffen hat, konfrontiert. Vom Bühnenbild ist nahezu nichts erhalten geblieben, der Bühnenbildner Gilles Aillaud starb im Jahr 2005. Es war schwierig die Originalunterlagen aufzufinden, die man benötigte, um den Farben und Formen des Originals möglichst nahe zu kommen. Aillauds Assistent Bernard Michel hat das Kunststück zustande gebracht, das Bühnenbild wieder in seiner vollen Schönheit zu rekonstruieren und Grübers langjährige Assistentin Ellen Hammer hat dessen Regie neu einstudiert. Diese Inszenierung zählt sicher nicht zu den bahnbrechenden Operninszenierungen, besticht jedoch durch ihre zeitlose und schlichte Schönheit. Eine mit Fresken bemalte Häuserfront, ein Zypressenwald, ein Garten mit Zitronenbäumen, mit nur wenigen Versatzstücken werden wir in das alte Rom entführt, und die schönen Bilder prägen sich dem Zuschauer ein. Dazu kommen noch die traumhaften Kostüme von Rudy Sabounghi und die stimmungsvolle Lichtregie von Dominique Borrini.

Jean-Paul Fouchécourt, der in der Originalproduktion noch die Arnalta gesungen hat, ist nunmehr Leiter des Studios der Opéra de Lyon und ihm oblag es, die Mitglieder des Opernstudios auf ihre große Aufgabe vorzubereiten. Diese Aufführung wurde ja ausschließlich von Sängern aus dem Opernstudio bestritten, und das Endergebnis war vielleicht besser als so manche Aufführung an einem renommierten Opernhaus. Aus der Vielzahl der begabten jungen Sänger möchte ich nur ein paar hervorheben, die besonders starken Eindruck hinterlassen haben. Allen voran Aline Kostrewa, die mit ihrem betörend schön timbrierten Mezzosopran einen wirklich herzzerreißenden Ottone gestaltet hat. Dieser Sängerin kann man getrost eine große Karriere voraussagen. Aber auch der junge Bassist Pawel Kolodziej konnte mit noch nicht allzu großer, aber gut fundierter Stimme und beeindruckenden Tiefen als Seneca gefallen, ebenso wie die finnische Mezzosopranistin Elli Vallinoja als Ottavia, die ihren Abschied von Rom tief empfunden gestaltete, und die deutsch-chilenische Sopranistin Josefine Göhmann in der Titelpartie. André Gass hatte als Arnalta natürlich die Lacher auf seiner Seite. Die einzige Enttäuschung bot die aus Litauen stammende Mezzosopranistin Laura Zigmantaite. Stimmlich war sie zwar tadellos, aber es gelang ihr nicht ihre Rolle mit Leben zu erfüllen. Man glaubte ihr einfach den liebestollen Nero nicht. Wahnsinnig ist er ja in der Oper von Monteverdi noch nicht, aber dennoch deutet am Ende, während des finalen Liebesduetts Nero-Poppea, die glühend rot ausgeleuchtete Häuserwand auf den künftigen Brand Roms hin.

Sébastien d‘Hérin leitete ein Originalklangensemble in kleiner Formation (12 Musiker), das sich Les Nouveaux Caractères nennt. Auch wenn an diesem Abend der warme Wind, der einem im Théâtre de l’Archevêché in Aix-en-Provence ins Gesicht bläst, gefehlt hat, so war es doch ein rundum beglückender Abend. Und das Publikum konnte sich noch einmal an einer der schönsten Opernproduktionen des 2008 verstorbenen Klaus Michael Grüber erfreuen.

ELEKTRA

Opéra de Lyon, 17.3.2017

Als die wiederaufgebaute Semperoper in Dresden 1985 wiedereröffnet wurde, hat man den Orchestergraben in der ursprünglichen Originalgröße eingebaut. (Die nachträgliche Vergrößerung des Orchestergrabens erfolgte erst 1996.) Die Konsequenz war, dass der Orchestergraben für Aufführungen von Opern mit großer Orchesterbesetzung nicht geeignet war. Als man dort 1986, an der Stätte ihrer Uraufführung, die „Elektra“ von Richard Strauss in einer Neuinszenierung herausbrachte, machte Ruth Berghaus die Not zur Tugend. Sie setzte die Musiker der Staatskapelle kurzerhand auf die Bühne und integrierte so das Orchester als horizontales Element in das Bühnengeschehen. Hans-Dieter Schaal stellte ihr dafür einen Sprungturm auf die Bühne, auf dem sich die Handlung dann größtenteils in der Vertikale abspielt, was den Sängern nicht nur eine stimmliche sondern zusätzlich noch eine sportliche Kondition abverlangt. In diesem einfachen Bühnenbild hat die 1996 verstorbene Ruth Berghaus mit einer spannenden Personenregie eine mustergültige Interpretation der Atriden-Tragödie geschaffen und damit Operngeschichte geschrieben.

Hartmut Haenchen, der 1986 die Premiere dieser Produktion an der Semperoper kurz vor seiner Übersiedlung in den Westen noch geleitet hatte, konnte nun für diese Neueinstudierung in Lyon gewonnen werden. Und so wogt und wuchtet der Orchesterklang gewaltig von der Bühne in den Zuschauerraum. Er lässt die Partitur in allen Facetten lebendig werden und gibt dem Sog, den diese Musik ausübt, freien Lauf. Mit dieser Aufführung hat sich Elena Pankratova nun endgültig in die erste Reihe der hochdramatischen Soprane hinaufgearbeitet. Als beinahe konkurrenzlose Färberin ist sie ja schon seit Jahren auf allen Bühnen der Welt zu sehen. Gleich nach ihrem Debüt an der Wiener Staatsoper als Turandot beeindruckte sie nun mit einer stimmlich phänomenalen Leistung in der Titelpartie. Während sich viele hochdramatische Soprane mit den eher lyrischen Passagen abplagen, ist Pankratovas kraftvoller Sopran imstande herrlich lyrische Bögen zu spannen und zarteste, leiseste Töne zu produzieren. Und auch die dramatischen Töne kommen immer ohne Druck, ihre Stimme wird niemals schrill oder scharf. Die Spitzentöne strahlen und sie schafft es auch mühelos das volle Orchester zu übertönen. Aber ebenso eindrucksvoll waren Katrin Kapplusch als lebenshungrige Chrysothemis mit mädchenhaft zarten Tönen, und Lioba Braun als traumgeplagte Klytämnestra. Christof Fischesser hinterließ als Orest leider keinen großen Eindruck und als Aegisth stand Thomas Piffka auf der Bühne, der nicht mehr viel Stimmvolumen besitzt.

Wenn auch die Neueinstudierung durch Katharina Lang durchaus als gelungen zu bezeichnen ist, so hat das Publikum in Lyon diese Produktion wahrscheinlich doch ganz anders aufgenommen als die Zuschauer in Dresden im Jahr 1986. Wenn fast alle Protagonisten von Elektra bis hin zu den Mägden ständig von diesem Turm (der wahrscheinlich die Deutschen im Osten eher an einen Grenzturm erinnert haben mag) aus ihren Blick in die Weite streifen ließen, dann haben sie gewiss nicht nur nach Orest Ausschau gehalten sondern nach Freiheit. In dieser Inszenierung war ja Elektra wirklich mit einem Seil an den Turm gefesselt. Die Welt der Klytämnestra und des Aegisth war gezeichnet als eine überholte, dem Untergang geweihte Herrschaftsklasse (und das drei Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer!). Und Klytämnestras Bewacherinnen wirken mit ihren Peitschen wie Gefängnisaufseherinnen. Wir können uns wahrscheinlich gar nicht vorstellen, was bei so manchem Besucher damals diese Inszenierung ausgelöst haben mag. Und es ist schon interessant, dass der Zensur in der DDR diese Details wohl gar nicht aufgefallen sind. Auch wenn das alles natürlich das französische Publikum im Jahr 2017 nicht tangiert, so geriet diese Aufführung doch zum Höhepunkt des diesjährigen Festivals.

TRISTAN UND ISOLDE

Opéra de Lyon, 18.3.2017

Höhepunkt des Festivals sollte wohl die Neueinstudierung der legendären Inszenierung von Wagners „Tristan und Isolde“ bei den Bayreuther Festspielen des Jahres 1993 von Heiner Müller werden. Dass das leider nicht geklappt hat, lag jedoch nicht an der sorgfältigen Einstudierung durch den seinerzeitigen Assistenten und nunmehrigen Leiter des Schauspiels am Linzer Landestheater Stephan Suschke. Es lag vielmehr an der musikalischen Seite. Zumindest die Premiere stand unter keinem guten Stern. Die Sängerin der Isolde erkrankte, am Tag vor der Premiere flog man eine Ersatzsängerin ein. Am Tag der Premiere erklärte sich Ann Petersen jedoch bereit, trotz ihrer Indisposition zu singen. Ob sie sich und dem Publikum damit einen Gefallen getan hat? Aber natürlich entzieht sie sich damit jeder Kritik ebenso wie der ebenso angeschlagene und entschuldigte Bariton Alejandro Marco-Buhrmester als Kurwenal. Ein Problem stellte aber auch Daniel Kirch dar, der vielleicht ein guter Melot gewesen wäre (sicher ein besserer als es Thomas Piffka war), aber mit dem Tristan schwer überfordert war. Er hielt zwar durch bis zum Schluss, aber die vielen gequetschten Töne (oder besser gesagt Phrasen) waren alles andere als eine Ohrenweide. Christof Fischesser war zufriedenstellend, die Klage des Königs Marke hat man jedoch schon viel eindrucksvoller gehört. Die beste Gesangsleistung des Abends erbrachte hingegen Eve-Maud Hubeaux, die mit ihrem satten, schön timbrierten Mezzosopran eine herrliche Brangäne sang. Das Orchester der Opéra de Lyon, das am Vorabend so eine fulminante Leistung erbracht hatte, war an diesem Abend scheinbar viel unkonzentrierter. Hartmut Haenchen, der auch an diesem Abend am Pult stand, schaffte es nicht annähernd so viel Spannung aufzubauen wie zuvor bei der „Elektra“. Somit verpuffte dieser Abend leider musikalisch völlig.

Für Heiner Müllers einzige Operninszenierung hat Erich Wonder drei wundervolle Räume entworfen, für Lyon nachgebaut wurden sie nun von Kaspar Glarner: Im ersten Akt einen schrägen Holzbau im orangenen Licht, in dem sich Isolde und Brangäne in einem kleinen Quadrat an der Rampe bewegen und Tristan und Kurwenal in einem kleinen Quadrat an der Rückwand. Zwei Welten, die sich gleichen und doch unendlich voneinander entfernt sind. Irgendwo verläuft eine Grenze, aber die ist unsichtbar. Kein Schiff, kein Segel, kein Naturalismus, sondern Geometrie pur. Im zweiten Akt einen blau ausgeleuchteten Raum, in dem Unmengen von Brustpanzern in Reih und Glied aufgestellt sind. In dieser militaristischen Männerwelt kann sich Isolde kaum bewegen. Isolde empfängt Tristan vorne an der Rampe und beide sinken Schulter an Schulter zu Boden. Die Dunkelheit verschlingt das Paar, nur die Rüstungen schimmern im matten Licht. Die Zeit scheint stillzustehen – die Intimität des Todes hat begonnen. Im letzten Akt stirbt Tristan in einer grauen, steinernen Wüste. Isolde bedeckt den toten Geliebten mit ihrem Mantel und singt am Schluss ihren Liebestod stehend – der Welt bereits entrückt. Die futuristischen Kostüme stammen vom japanischen Modedesigner Yohji Yamamoto. Die Originalbeleuchtung von Manfred Voss wurde nun von Ulrich Niepel nachempfunden. Stephan Suschke hat die Inszenierung mit ihrer stilisierten Statik sorgfältig einstudiert. Wenige Blicke oder Gesten genügen als Ergänzung zur Musik, die ohnehin alles erzählt. Selten hat eine Inszenierung der Musik so vertraut wie diese hier. Wie sich die Zeiten ändern: diese Produktion, im Entstehungsjahr noch gnadenlos ausgebuht, geriet binnen kürzester Zeit zur Kultaufführung. Auch nach 24 Jahren wird der Besucher dieser Inszenierung von der starken Ausstrahlungskraft dieser Bilder überwältigt. Gerade durch die strenge Stilisierung wird das Hauptaugenmerk auf die Musik gelenkt und nur durch sparsame Bewegungen oder Berührungen unterstützt. Heiner Müller hat damals in Bayreuth wirklich eine Modellinszenierung geschaffen, die auch ein Vierteljahrhundert später noch bestehen kann. Da diese Neueinstudierung als Koproduktion mit dem Neuen Musiktheater in Linz erarbeitet wurde, kann man diese Inszenierung ab September 2018 in Linz noch einmal sehen. Wagner-Fans sollten sich das auf keinen Fall entgehen lassen. Hoffentlich wird dann dort die musikalische Qualität etwas höher sein als an diesem Abend.

Serge Dorny, der gegenüber seinen Intendantenkollegen seine Nase immer um mindestens zwei Längen voraus hat, hat mit diesem überaus erfolgreichen Festival möglicherweise auch eine Vorreiterrolle übernommen, um einen Retro-Boom auszulösen. Angesichts der vielen katastrophalen Neuinszenierungen, die uns in so vielen Opernhäusern vorgesetzt werden, dürstet das Publikum nach Wiederbegegnungen mit guten Produktionen der Vergangenheit. Wie Dorny mit diesem Festival bewiesen hat, hat das überhaupt nichts mit Opernmuseum zu tun. Gute Inszenierungen bestehen auch noch nach Jahrzehnten. Demnächst wird bei den Salzburger Osterfestspielen die „Walküre“ von Vera Nemirova neu inszeniert, allerdings im berühmten Bühnenbild, das Günther Schneider-Siemssen für Herbert von Karajan einst geschaffen hat. Auch dieses Projekt kann man durchaus unter diesen Retro-Boom einordnen. Mögen sich auch andere Intendanten diesem Boom anschließen. Der Wiener Operndirektor könnte z.B. im Zuge dieses Booms – ohne sein Gesicht zu verlieren – endlich die verunglückte „Figaro“-Inszenierung seines Freundes Martinoty entsorgen und dem Wiener Publikum die wundervolle Ponnelle-Produktion zurückgeben, die bei Gastspielreisen nach wie vor für Furore sorgt. Vielleicht geschehen ja noch Wunder.

Bilder (c) Jean-Louis Fernandez / stofleth

Walter Nowotny 30.3.2017

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner Merker-online (Wien)

P.S. Österreich

Der Kartenverkauf für die Vorstellungen von „Tristan und Isolde“ im Neuen Musiktheater in Linz hat bereits begonnen. Die Premiere am 15.9.2018 ist bereits ausverkauft. Weitere Informationen finden Sie hier https://www.landestheater-linz.at/musiktheater