Lyon: „Jeanne d’Arc au bûcher“

am 29.1.2017

Arthur Honegger

Arthur Honeggers „Jeanne d’arc au bûcher“ (Johanna auf dem Scheiterhaufen) ist ja an und für sich schon ein äußerst ungewöhnliches, merkwürdiges und eigen-artiges Werk. 1935 als Auftragskomposition für die russisch-jüdische Ausdruckstänzerin Ida Rubinstein auf ein Libretto des französischen Oberkatholiken Paul Claudel geschrieben, oszilliert es zwischen Oratorium. Schauspiel, Solo-Performance und Oper. Mit Texten in Französisch und Latein, mit Groteskheiten wie einem aus Schweinen, Schafen und Eseln bestehenden Gerichtshof. Und einer Partitur, die zwar einerseits äußerst kühne Modernität aufweist, aber auch sowohl Barock- als auch Jazzmusik parodiert. Ein Unikat sozusagen.

Dem italienischen, aus der bildenden Kunst bzw. der Hardcore-Avantgardetheatergruppe „Societas Raffaello Sanzio kommenden, Regisseur, Bühnen – und Kostümbildner sowie Lichtdesigner Romeo Castelluccio ist es mit seiner Lyoner Produktion gelungen, diese „Johanna“ n o c h merkwürdiger, noch ungewöhnlicher, noch eigenartiger und noch einzigartiger zu machen.

Der Vorhang hebt sich und gibt den Blick frei auf eine in einem hässlichen, hohen und verfallenden Fabrikgebäude angesiedelte Schulklasse. Unter der unerbittlichen Aufsicht einer strengen Lehrerin schreiben die in Uniformen gesteckten Schülerinnen gerade eine Klassenarbeit, Schummelversuche inklusive. Dann ertönt die Pausenglocke, und die junge Brut stürmt erleichtert von dannen.

Nach einiger Zeit(es ist bislang noch kein einziger Ton Musik erklungen) betritt ein gebückter Schulwart im grauen Arbeitsmantel den Raum, säubert den Boden, die Sessel, die Bänke. Nach getaner Arbeit (k)nickt er ein wenig ein. Wieder erwacht, beginnt er mit zunehmendem Furor die gesamte Klasseneinrichtung nach außen in den Gang zu verfrachten und daselbst chaotisch übereinander zustapeln. Mittlerweile sind (wahrscheinlich) fünfzehn gezählte, aber(da das Spiel immer noch stumm ist) gefühlte 30 Minuten vergangen. Daher regt im Saal (völlig verständlicherweise, der Vorgang ist sehr quälend) nun langsam Unmut. Es wird geklatscht als Aufforderung, endlich w i r k l i c h anzufangen, und die ersten Zwischenrufe brechen sich Bahn: „Bestellt doch eine Spedition !“, „Sollen wir helfen kommen ?“ usw. usf. Kurz bevor sich der geballte Volkszorn in eine neue französische Revolution, in einen neuen Sturm auf die (Bühnen-) Bastille entlädt, setzt endlich das Orchester ein.

Jetzt entdecken wir allmählich, dass sich hinter der Maske des Schulwarts eine junge Frau verbirgt. Sie entfernt auch noch die Tafel, gräbt den Bühnenboden auf, entkleidet sich, entblößt sich, steht nackt vor uns. Am Gang taucht ihr Vertrauter, der Mönch Dominique auf, von außen hören wir die Stimmen aller anderen (unsichtbaren) Personen. Die Zuschauer sind in der Zwischenzeit im Verlauf der Handlung immer ruhiger und aufmerksamer und mucksmäuschenstiller geworden, bis sie am Ende, wenn die nackte junge Jeanne von ihrem älteren, ebenfalls nacktem alter ego sanft in die von ihr selbst mit bloßen Händen geschaufelte Grube gerollt wird, in nahezu ehrfurchtstarrer Andacht verharren. Eine Andacht, die nach Fallen des Vorhangs in einem nicht enden wollenden, von rhythmischem Klatschen verstärkten Applaus für alle Beteiligten (Denis Podalydès als Frère Dominique, Valentine Lemercier als Marguerite, Marie Karall als Catherine, den Chor und den Dirigenten Kazushi Ono etc.) förmlich explodiert.

Mit einem ohrenbetäubenden Extrajubel für die Hauptdarstellerin Audrey Bonnet, die mit ihrem konzentrierten, beseelten und sich selbst gegenüber absolut schonungslosen Spiel die intensiven, eindringlichen, manchmal sogar zärtlichen Bilder(wie sie z.B. als Jeanne ihr totes weißes Pferd streichelt oder unter der Last ihres eigenen glänzenden Schwertes zusammenbricht) von Romeo Castellucci eigentlich erst um Leben erweckt.

Ein rarer Fall einer geglückten Publikumsbekehrung bei laufender Vorstellung, ein rarer Fall einer gelungenen „performativen Überschreibung “ einer bekannten Handlung.

Bilder (c) Opera de Lyon / Stofleth

Robert Quitta, Lyon 31.1.2017

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