Montpellier: „Manfred“, Robert Schumann

Aufführung am 3.12.2017

Manfred nun als megalomaner Melancholiker in Montpellier

Schnee auf dem Weg nach Montpellier an der Mittelmeerküste zwischen Marseille und Toulouse. Das ist ungewohnt, passt aber sehr gut zu „Manfred“, den Lord Byron „in den Alpen und in der Unterwelt“ imaginierte. Schumanns „Manfred“ wird in Frankreich äußerst selten gespielt: nur ein einziges Mal im XXe Jahrhundert (vor zwanzig Jahren an der Oper in Lyon) und bis jetzt nur ein einziges Mal im XXIe Jahrhundert: vor vier Jahren an der Opéra Comique (siehe Merker 12/2013). Es passt also zur Intendantin Valérie Chevalier, dass sie dieses so selten gespielte Werk auf ihren originellen Spielplan in Montpellier gesetzt hat.

Schumann nannte „Manfred“ ein „Dramatisches Gedicht in drei Abteilungen“, Franz Liszt, der die Uraufführung am 13 Juni 1852 in Weimar dirigierte, eine „Oper“. Eigentlich ist Manfred streckenweise ein „Melodram“: ein gesprochener Text mit Orchesterbegleitung, wie in den damals sehr bekannten Melodramen von Benda, in Mozarts „Zaïde“ oder wie bei Samiels Beschwörung in der Wolfsschlucht des „Freischütz“. Weber und die aufblühende deutsche Romantik waren die offensichtlichen Vorbilder für Robert Schumann, der an einer typisch deutschen Operngattung arbeiten wollte mit Dichtungen, Szenen, Liederspielen, Märchen und Balladen (wie er in seinen theoretischen Texten schrieb). In dem dramatischen Gedicht sind die beiden Hauptrollen, Manfred und die Fee, gesprochen und singen nur die – meist unsichtbaren – Geister.

Jedes Produktionsteam von „Manfred“ steht also vor quasi unlösbaren Fragen, da Schumann sein Werk nie auf einer Bühne gesehen hat: er dirigierte nur die berühmte Ouvertüre in Leipzig und verpasste wegen schweren Depressionen die Uraufführung in Weimar. Danach wurde das Werk zu seinen Lebzeiten nicht mehr gespielt und muss nun bei jeder Produktion eine neue „Bühnenfassung“ erstellt werden. Nicht einfach – denn Byron hatte sich 1817 in einem Brief an seinen Verleger entschieden gegen jede Form von Bearbeitung seines „Gedicht mit Dialogen“ gewehrt, das zugleich „in den Alpen und in der Unterwelt“ spielt und „metaphysisch, wild und unerklärlich“ sei. Schumann behielt 975 von den 1336 Versen der Ballade Byrons und komponierte nebst der bekannten Ouvertüre fünfzehn kleine Einlagen, die man „Bühnenmusik“ nennen könnte (wie z.B. in Mendelsohns „Sommernachtstraum“). So besteht „Manfred“ zu ¾ aus gesprochenem Text und nur zu ¼ aus Musik.

Die italienische Regisseurin Sandra Pocceschi erstellte mit ihrem künstlerischen Partner und Bühnenbildner Giacomo Strada eine eigene Bühnenfassung, indem sie alle gesprochenen Texte zu einem Monolog zusammenstrich. Das haben etliche andere Regisseure vor ihr getan und das hat seine szenische Berechtigung: damit verschwinden unwichtige Nebenfiguren wie der Jäger und der Mönch (die nur wenige Sätze zu sagen haben) und wird die Monomanie Manfreds – um nicht zu sagen „seine Verrücktheit“ – erheblich verstärkt, da er auch sein weibliches Pendant spielt. Das Regieteam hat den komplexen Titelhelden im Programmheft psychoanalytisch ergründet und attestiert ihm drei „Hauptpathologien“: Manfred ist ein megalomaner Melancholiker mit einem Drang zur Selbstzüchtigung, ein Narziss, der sich mit idealisierten Gegenständen identifiziert, und ein libidoreicher Ödipus, der gleichzeitig unter Kastrationsängsten leidet. Um dies alles auf einer Bühne darzustellen, haben Pocceschi und Strada einen Stoff-Kubus gebaut, in dem Manfred sich räumlich einschließen kann und der zugleich auch die Projektionsfläche für ein fast abendfüllendes Video ist (sehr schöne Bilder des Studio Ancarani). Wir hören Manfred (mit Mikrophon) auf Französisch mit den Naturgeistern reden, die ihm auf Deutsch singend aus dem Off oder aus dem Saal antworten.

Die Brechtsche Verfremdung funktioniert und eine sicher gewollte Befremdung stellt sich ein – die Regisseurin meinte nach der Vorstellung in einem Publikumsgespräch, dass die Titelfigur ihr zutiefst unsympathisch sei: „Manfred ist selbstgefällig, ein Egoist, ein Megaloman und sein Text ist nicht modern.“ So modernisierte sie den Monolog, indem sie ihn neu übersetzte (ins Französische) und ihm ein Nacht-Gedicht von Byron zufügte (auf Englisch), das zum Schluss als Melodram mit anderer Musik von Schumann gespielt wurde (das Lied „In der Nacht“, das sich mühelos einfügen ließ).

Doch damit überstrapazierte die Regisseurin die Aufnahmefähigkeit der Süd-Franzosen, zumindest in der von mir besuchten Vorstellung: ein Sonntag-Nachmittag, wo das Publikum nach einem üppigen „déjeuner“ hauptsächlich mit seiner Verdauung beschäftigt zu sein schien. In der Reihe hinter mir wurde ungeniert geschnarcht, im Parkett unter mir standen einige Personen erbost auf und verließen den Saal mit lautem despektierlichem Kommentar, der die Vorstellung empfindlich störte.

Unter diesen Umständen haben wir nur Lob für den Schauspieler Julien Testard, der souverän als Manfred fast zwei Stunden lang ununterbrochen auf der Bühne agierte, erst als Double von Schumann (?), dann halbnackt als wilder Geißbock in den Bergen, schließlich sterbend als Byron (?) unter einem Sternenhimmel. Wir haben sein Spiel bewundert, aber leider konnten wir ihn oft nicht verstehen. Das kann man nicht von dem exzellent artikulierenden, von Noëlle Gény und Valérie Blanvillain vorbereiteten, Opernchor behaupten, aus dem auch alle Gesangssolisten kamen. Lob für die „Geister“: Christine Craipeau (Luft), Sherri Sassoon-Deschler (Wasser), Jean-Philippe Elleouet-Molina (Erde), Ernesto Fuentes (Feuer) und Laurent Sérou, Xin Wang, Jean-Claude Pacull, Albert Alcaraz (vier Geister).

Am besten gefiel uns der junge deutsche Dirigent David Niemann, der nun festen Fuß in Montpellier gefasst hat. Er dirigierte die Ouvertüre auswendig, mit Energie und vielen Nuancen. Er fand sofort den guten, bei dem changierenden und harmonisch oft komplexen Schumann nicht immer leicht zu findenden Ton. Aber das Orchestre national Montpellier Occitanie fand diesen Ton (noch) nicht: die Streicher waren oft unsauber und verpatzten hörbar einige Einsätze. Die Bläser waren dagegen viel feiner und die Solooboistin Tiphaine Vigneron spielte wirklich konzertreif. Als „halbszenisches Konzert“ wird diese Produktion nun weiterreisen an die Philharmonie de Paris und an die Oper in Rouen. Wir sind gespannt!

Bilder (c) Marc Ginot

Waldemar Kamer 5.12.2017

Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online, Paris.