Lüttich: „Lakmé“

Premiere: 20.09.2022, besuchte Vorstellung: 27.09.2022

Farbenfrohes Spektakel

Lieber Opernfreund-Freund,

nach beinahe 30 Jahren ist derzeit an der Opéra Royal de Wallonie-Liège (ORWL) wieder Leo Delibes‘ Lakmé zu erleben. Das Werk gehört in Frankreich oder Großbritannien zum Standardrepertoire, ist aber auf deutschen Bühnen vergleichsweise selten zu erleben. Deshalb habe ich mich auf den Weg nach Lüttich gemacht, um Ihnen von einer Aufführung berichten zu können.

Das Haus in Lüttich ist für seine meist traditionelle Lesart der gespielten Werke bekannt und auch Davide Garattini Raimondi schlägt in seiner Interpretation keine revolutionären tiefenpsychologischen Töne an, betont aber den religiösen Aspekt von Lakmés Zerrissenheit sowie den Drang des unterdrückten Volkes nach Befreiung. Wohl deshalb lässt der italienische Regisseur Lakmés Geschichte von Gandhi, der zur Zeit der Handlung 11 Jahre alt war, als eigene Erinnerung erzählen. Garattini Raimondi hatte an der ORWL 2017 schon eine spektakuläre Norma inszeniert; schon damals stand ihm der Bühnenbildner Paolo Vitale zur Seite und hatte die originalgetreue Nachbildung eines römischen Reliefs in sein Bühnenbild realisiert. Und auch in der Lakmé zieht das Duo alle Register der klassischen Ausstattungsoper mit aufwändigen Bühnenaufbauten, überbordender Ornamentik und stringenter Orientierung entlang des Librettos. Hinzu kommt ein exquisites, stimmungsvolles Licht, für das ebenfalls Paolo Vitale verantwortlich zeichnet. Die aufwändigen Kostüme von Giada Masi – landestypische, knallbunte Gewänder für die Inder, zeitgemäße Mode der gehobenen Kreise des ausgehenden 19. Jahrhunderts für die britischen Besatzer – tun ein Übriges, um dem Zuschauer ein komplettes Eintauchen in die fremdartige Welt der Lakmé zu ermöglichen. Warum das Produktionsteam im dritten Akt dann vom Originalplot abweicht, ihn stattdessen in einer grün getünchten Bar nach Vorbild eines Clubs der britischen Upper Class verlegt, erschließt sich kaum, stört aber den gelungenen Gesamteindruck nicht, den die bildgewaltige Inszenierung hinterlässt.

Leo Delibes würzt seine Komposition mit allerhand Orientalik, die zahlreichen Arien und Couples sprühen vor Melodienreichtum. Mehrere Ballette mit den originellen Choreografien von Barbara Palumbo lockern die Handlung auf, sorgen aber auch dafür, dass der Abend inklusive zweier Pausen rund dreieinhalb Stunden dauert. Und doch kommt dank der reichen Bebilderung, der lebendigen Personenführung und natürlich der Musik keine Sekunde Langeweile auf. Frédéric Chaslin sorgt im Graben für teilweise forsche Tempi, entfaltet die farbenreiche Partitur jedoch mit viel Raffinesse und stellt so gekonnt unter Beweis, dass dieses Werk weit mehr zu bieten hat als Blumenduett und Glöckchenarie. Der Chor hat viel zu tun bei Delibes und überzeugt unter der Leitung von Denis Segond auf ganzer Linie.

In der Titelrolle glänzt Jodie Devos, trumpft mit einem Höchstmaß an Beweglichkeit in ihren Koloraturen auf und legt doch viel Seele in ihre Interpretation der unglücklich verliebten Bramanentochter. Ihr Gesang packt mich emotional in solchem Maße, dass ich ihr gern verzeihe, dass sie dem Publikum den Spitzenton in ihrer Bravourarie versagt. Der zarte Tenor von Philippe Talbot ist wie gemacht für den Gérald, der nicht die Chuzpe besitzt, sich zu seiner Liebe zu bekennen, und so deren Selbstmord auslöst. Geschmeidige Höhen und ein guter Schuss Emotionen zeichnen den Gesang des Franzosen aus. Lionel Lhote ist ein auch stimmlich durchsetzungsstarker Nilakantha, während Pierre Doyen voller Inbrunst den treuen Frédéric gibt. Aus der Unzahl der kleineren Rollen sticht der junge Pierre Romainville als Hadji mit vielversprechendem Tenor hervor und Sarah Laulan stellt als herrlich schrullig dargestellte Gouvernante Mistress Benson nicht nur ihre Sangesqualitäten, sondern auch ihr komödiantischen Gespür unter Beweis.

Das Publikum im ausverkauften Haus ist am Ende begeistert, applaudiert frenetisch allen Mitwirkenden. Und auch ich kann Ihnen diese Produktion nur wärmstens ans Herz legen.

Ihr Jochen Rüth, 30.09.22

Bilder (c) ORW