Zürich: „Girl with a Pearl Earring“

Tracy Chevaliers fiktiver Roman GIRL WITH A PEARL EARRING ist eine fesselnde Ich-Erzählung der Erlebnisse der Magd Griet im Hause des Malers Vermeer, für den sie für sein berühmtestes Gemälde Modell steht. Kann man aus dieser handlungsarmen, das Ambiente des Lebens im 17. Jahrhundert in Delft so präzise einfangenden Erzählung eine Oper machen, und wenn ja, was bringt die Oper für zusätzliche Schichten und Vertiefungen der Geschichte zu Tage? Nach dieser Uraufführung darf man getrost sagen: JA, MAN KANN. Das war ein grossartiger, überragender Abend, eine Uraufführung, die begeistert aufgenommen wurde, die einen intensiven – obwohl intimen – Sog entwickelte, genauso faszinierend war, wie die Lektüre des Romans. Und das will was heissen.

Komposition und Orchester

Der Schweizer Komponist Stefan Wirth hat eine wunderbar vielschichtige Partitur vorgelegt, die von einer unglaublichen kompositorischen Reife zeugt, obwohl dieses Werk seine erste grosse Oper darstellt. Der Klang des Orchesters ist ungemein transparent, differenziert ausgestaltet, bietet ganz grandiose Momente. Wenn man sich auf diese Musik einlässt, hört man so unfassbar viele instrumentale Details, kann sich der Faszination des Klangs kaum entziehen. Das ist streckenweise richtig „schön“ und scheint immer genau auf dem Punkt zu sein. Fantastisch sind die packenden, zentralen Momente ausgearbeitet, die Momente, wo die Stimmen schweigen und das Orchester mit überwältigender Einfühlsamkeit die Empfindungen der Protagonisten auslotet. Das ist mal zart, mal heftig, mal vor allem aus Geräuschfetzen bestehend, nie zu laut, nie Hörschmerz auslösend. Ja, es ist eine Musik, die man gerne mehrmals hören möchte. Peter Rundel leitete die Philharmonia Zürich mit bestechender Klarheit, auch bei den subtil sich aufbäumenden Klangschichtungen war das nie zu laut oder zu lärmig. Die Balance zwischen Orchester und Stimmen war auch im Parkett perfekt (was oft beim Belcanto-Repertoire nicht gegeben ist).

Die Gesangslinien und ihre Interpreten

Logischerweise konzentriert sich sich alles auf die Magd Griet, welche die Bühne kaum je verlässt, die pausenlosen zwei Stunden erzählend und agierend die Szene beherrscht. Stefan Wirth hat hier für die Sängerin eine Gewaltspartie geschrieben, mit sehr schwierigen Intervallsprüngen, aber ungemein dankbar. Lauren Snouffer gestaltete die Partie mit ihrem wunderschön timbrierten, in der Höhe so silbern und sauber ansprechenden Sopran mit einer dermassen stupenden Selbstverständlichkeit, dass man glaubte, die Rolle gehöre zu ihrem Standardrepertoire. Ihre zarten Piani waren zum Dahinschmelzen fein gesponnen, ihr Agieren von überragender Präsenz. Sie war auch die einzige, die vom Komponisten quasi eine „Arie“ zugestanden bekam, den wunderbaren Song of the Tile, in dem sie sich Gedanken über das sie erwartende Schicksal im Hause Vermeer macht, ihr die Fliese ihres Vaters Halt und Kraft gibt. Als Jan Vermeer konnte man den Starbariton Thomas Hampson verpflichten. Sein Part war eher deklamierend ausgerichtet, doch Hampson füllte die Phrasen mit herrlicher Wärme und grosser Gestaltungskraft. Seine wunderbares Timbre ist ungebrochen einnehmend, das Volumen stets kotrolliert. Er verlieh dem Maler den auch in der Romanvorlage zum Ausdruck gebrachten amorphen Charakter. Doch gerade in den orchestralen Zwischenspielen offenbarte der Komponist Einblicke in diese Künstlerseele und Hampson und auch Lauren Snouffer setzten dies durch sparsame Gesten und vielsagende Blicke mit bestechender Konsequenz um. Vermeers Gattin, die dauerschwangere Catharina wurde von der grossartigen Laura Aikin dargestellt. Sie verlieh dieser leicht verhärmten, (zu Recht?) eifersüchtigen Frau grossartiges Profil. Die kalten Blicke, welche sie Griet zuwarf, hätten töten können. Die wichtige Rolle von Vermeers Schwiegermutter (der eigentlichen Herrin im Hause) Maria Thise hätte eigentlich Felicity Palmer singen sollen, sie hatte sich jedoch (anscheinend ziemlich kurzfristig) zurückgezogen. Das Opernhaus Zürich kann sich glücklich schätzen, eine Künstlerin vom Format einer Liliana Niketeanu im Ensemble zu haben: Sie verlieh der Partie beeindruckendes Format, durchdrungen von klug eingesetzter Autorität. Eine grossartige Leistung. Auch das langjährige Ensemblemitglied Irène Friedli hatte einen grossartigen Abend. Ihr Porträt der stets etwas missgelaunten, knorrigen und Griet mit skeptischen Augen beobachteten Magd Tanneke war rundum gelungen. Der junge Bariton Yannick Debus liess in der Rolle des Metzgerburschen (und späteren Ehemanns von Griet), Pieter, aufhorchen. Was für eine vielversprechende, warm und einfühlsam geführte Baritonstimme war da zu erleben. Den Sänger muss man unbedingt auf dem Schirm behalten. Begeisterung löste auch der hell timbrierte Tenor Iain Milne in der Rolle des schmierigen und übergriffigen Mäzens Van Ruijven aus. Sowohl für ihn als auch für Pieter hat Stefan Wirth musikalisch dankbare Partien geschrieben. Elegant wurde vom Librettisten und vom Komponisten das Problem der (für die Geschichte wichtigen) Kinderrollen gelöst. Singende Kinder sind ja auf der grossen Opernbühne oft niedlich, aber selten richtig überzeugend: Wirth und sein Librettist Philip Littell haben eine imaginäre Rolle, genannt Children engine, geschaffen, welche die Partien der verschiedenen Mädchen singt, während echte Mädchen szenisch brillant (!) als Cornelia, Maertge und Lisbeth agieren. Lisa Tatin bewältigte diese gesanglich ausgesprochen schwierige Rolle mit ihren übermässigen Intervallsprüngen mit faszinierender Sicherheit und klanglich überragender Kraft. In der kleinen, aber wichtigen Rolle von Griets Mutter hinterliess Sarah Castle starken Eindruck.

Das Libretto

Philipp Littell beginnt die Story vom Ende her zu erzählen, von dem Moment an, wo Griet bereits das Haus Vermeers verlassen hatte (musste), mit Pieter verheiratet ist und an der Fleischertheke in der Markthalle arbeitet. Tanneke erscheint und überbringt die Nachricht, dass Cathrine Vermeer sie sehen wolle. Der Maler ist gestorben. Beim Betreten des Hauses kommen die Erinnerungen hoch an das, war zehn Jahre früher passierte. Nun rollen die Ereignisse bruchstückhaft ab, wie das so ist mit Erinnerungen nach langer Zeit. Das ist alles sehr geschickt gemacht, die wichtigen Szenen der Buchvorlage sind vorhanden, zum Teil werden Sätze und Gedanken wortwörtlich aus dem Buch von Tracy Chevalier übernommen, so gleich der erste Satz aus dem Munde Griets „I almost dropped my knife“. Das hat manchmal eine gewisse Banalität, da oft einfache Anweisungen und simple Sätze vertont werden mussten: „Where are you going?“, „I’d like a joint of mutton today please.“, „Thank you Griet, finished your cleaning?“ u.s.w. Ich denke, Musiktheater braucht da schon ein bisschen mehr Poesie statt Prosa, um der Musik Tiefe zu verleihen. Wie gesagt, im Orchester lief das dann alles zum Glück auf wunderbar expressiven Bahnen. Insgesamt aber hat die Umsetzung des Romans in ein Opernlibretto gut funktioniert. Logischerweise müssen für eine Oper immer Personen und Szenen aus der literarischen Vorlage entfernt werden, so sind die Rollen des Vaters und der Geschwister Griets vollkommen eliminiert. Auch die konfliktreiche Beziehung zur Vermeer Tochter Cornelia ist zwar szenisch angedeutet, die wichtige Ohrfeigenszene wurde beibehalten, die Rache Cordelias mit dem Diebstahl des Kamms und dem Zerbrechen der Fliese jedoch eliminiert. Gegen Ende wird es für Zuschauer ohne Kenntnis der Romanvorlage vielleicht etwas schwierig der Handlung zu folgen, da Littell noch zweimal zwischen Gegenwart und Rückblende hin und her wechselt.

Die Inszenierung

Ted Huffman und sein Bühnenbildner Andrew Lieberman haben eine Wand auf die Drehbühne gestellt, auf der einen Seite schwarz, auf der anderen Seite mit Lichtfenstern bestückt, die meistens kaltes, selten wärmers Licht verbreiten (Licht: Franck Evin). Es werden kaum Requisiten verwendet, mal einige Stuhlreihen für die Szene in der Kirche, ein Esstisch bei Vermeers, die Camera obscura in Vermeers Atelier. Die Kostüme von Annemarie Woods hingegen sind sehr genau auf die Zeit von 1664-1676 ausgerichtet, für die grosse Szene, wo Vermeer Griet als Mädchen mit dem Perlohrring malt, wurde Griet genauso eingekleidet, wie wir sie vom Gemälde her kennen. Diese Szene (ohne Pinsel oder Staffelei) lebt ganz durch Musik, durch das subtile Licht und die sprechenden Blicke. Das ist fantastisch gemacht. Die Konzentration auf die Protagonisten, die quasi „nackt “ (ohne Requisiten und Bühnenprospekte) auf der dunklen Bühne stehen, verleihen dem Stück die von mir so intensiv erlebte Sogwirkung. Spannendes zeitgnössisches Musiktheater, auch szenisch auf höchstem Niveau.

Foto von Toni Suter

Kaspar Sannemann, 4.4.22