Zürich: „Werther“, Jules Massenet

Gänsehautmomente und Tränen

… sind bei der Wiederaufnahme dieser Produktion aus dem Jahr 2017 garantiert. Nicht nur bescheren uns die Regisseurin Tatjana Gürbaca und ihr Bühnenbildner Klaus Grünberg am Ende ein Bild, das zutiefst rührt und bewegt, auch die Dirgentin Gieendrė Šlekytė, die wunderbar differenziert spielende Philharmonia Zürich und die Interpreten, allen voran natürlich Startenor Benjamin Bernheim in der Titelrolle und die ausdrucksstarke Mezzosopranistin Rihab Chaieb als Charlotte, sorgen für emotionalen Aufruhr des Herzens.

(c) Toni Suter

Tatjana Gürbaca und Klaus Grünberg ist mit dieser Inszenierung ein ganz grosser Wurf gelungen. Die Aussparung alles Naturalistischen, die Konzentration der Handlung in einem hermetisch abgeriegelten, asymmetrischen Seelenraum, in dem Reales mit dem Kopfkino des Künstlers verwoben wird, bedarf eines gedanklichen Einlassens auf das Konzept; doch, wenn man das schafft, wird man mit einer stringenten und bestechenden Unerbittlichkeit in den Strudel dieser Liebe ohne glücklichen Ausweg hineingezogen. Am Ende, wenn sich endlich die Fenster und Türen dieses getäfelten Raums öffnen und den Blick ins Weltall und den entschwindenden Planeten Erde, dieses Tal der Tränen, freigeben. Werthers Suizid, das Eingeständnis ihrer Liebe durch Charlotte und Gürbacas Kontrastierung des tragischen Paares mit der Idealvorstellung eines gemeinsam alternden, in seiner dauerhaften, ewigen Liebe verbundenen Paares und das freie Schweben des gesamten Raums im Universum, ist einer der Momente, in dem uns klar wird, warum wir die Emotionalität der Oper so lieben. Das ist schlicht genial konzipiert – von Massenet und dem Inszenierungsteam. Und es funktioniert so gut, weil eben Weltklasse am Werk ist.

Die international tätige, litauische Dirigentin Giedrė Šlekytė führt mit grandios gehaltenen Spannungsbögen durch die meisterhafte Partitur Massenets (wohl seine beste, wobei die restlichen 23 Opern des Meisters auch mal der Wiederentdeckung bedürften, denn ausser seiner MANON sind seine Werke doch eher nur noch am Rand des Repertoires oder gar außerhalb dieses Randes anzutreffen). Frau Šlekytė bringt die exquisite Orchestrierung Massenets mit transparenten Klangvorstellungen zum Klingen, besonders die kammermusikalisch geprägten Passagen werden von der exzellenten Philharmonia Zürich mit wunderbarer Einfühlsamkeit gespielt. Frau Šlekytė versteht es ausgezeichnet, die lieblichen, manche sagen „parfümierten“, Passagen mit der gebotenen Süsse zum Erblühen zu bringen, ohne dass der Klang klebrig wird. Großartig werden z.B. im Clair de lune die fragmentarisch hereinwehenden Phrasen nach und nach zum Ganzen gefügt.

(c) Toni Suter

Benjamin Bernheim in der Titelpartie ist schlicht und einfach unübertrefflich und mir kommt kein Tenor der Gegenwart in den Sinn, der ihm hier das Wasser reichen könnte. Welch eine perfekte Stimmführung, Pianotöne voller Ausdruckskraft, ohne je ins Weinerliche oder in tenorale Schluchzer abzugleiten, ein Passaggio der Extraklasse, eine dynamische Bandbreite, die bruchlos und organisch zu Steigerungen in der Lage ist, welche Gänsehautmomente evozieren. Dazu kommt ein gekonnter Einsatz der Voix mixte, einer Technik, welche es ihm ermöglicht, Töne in hohen Lagen, ohne jegliches Forcieren mit exemplarischer Klangschönheit wiederzugeben. Dazu kommt, dass Benjamin Bernheim ein eindringlicher, glaubhafter Darsteller ist. Höhepunkt ist natürlich die Szene, wo er mit Charlotte im dritten Akt seine Übersetzungen der Balladen Ossians durchgeht und dabei zu seiner „Arie“ Pourquoi me réveiller inspiriert wird. Wie Bernheim diesen tenoralen Hit aufbaut, rührt zu Tränen. Das ist Gesangskunst auf allerhöchstem Niveau, dynamisch so wunderbar organisch und differenziert sich steigernd, dabei immer mit perfekter Sauberkeit auf der Gesangslinie bleibend.

Wenn die Charlotte durch eine Mezzosopranistin besetzt wird (es gibt auch Aufnahmen mit Sopranistinnen, z. B. Victoria de los Angeles oder Angela Gheorgiu) erhält die Partie durch den dunkleren Klang der Stimme oftmals eine erotischere Färbung, erinnert dann schnell an die im zweiten Kaiserreich und bis zum fin de siècle oft in Opern anzutreffenden femmes fatales. Und fatale ist Charlotte ja für Werther, wenn auch die Erotik vordergründig nicht so eine große Rolle spielt wie in Bizets Carmen oder in Saint-Saëns Samson und Dalila. Diese Wiederaufnahme in Zürich nun ist die Partie der jungen Mezzosopranistin Rihab Chaieb anvertraut worden, welche mit sensibler Stimmführung und eindringlicher Expressivität die Dilemmata der Figur zwischen Pflichterfüllung als Ehefrau Alberts, als Ersatzmutter ihrer jüngeren Geschwister, dem Versprechen, das sie ihrer früh verstorbenen Mutter an deren Sterbebett gegeben hatte (die Urne der Mutter thront bedrohlich im zweiten Akt im Zentrum der Rückwand) expressiven Ausdruck verleiht. In ihrer grossen Briefszene im dritten Akt gelingt Rihab Chaieb ein unter die Haut gehendes Porträt dieser in vielerlei Hinsicht unfreien Frau, der das Glück versagt bleibt.

(c) Toni Suter

Audun Iversen sang Albert in Zürich bereits in der Premiere 2017. Sein Bariton klingt überaus einnehmend, er singt einen fantastischen Albert, der einem keineswegs unsympathisch ist, schliesslich kann er ja nichts dafür, dass Charlotte sich in Werther verliebt hatte. Darstellerisch ist auch er stark, nur schon die Blicke, die er mit seiner Gattin wechselt, sprechen Bände. Die lebenslustige Schwester Charlottes, Sophie, die am Ende des zweiten Aktes von Werther so schändlich versetzt wird, dass sie in Tränen ausbricht, wird von Sandra Hamaoui mit grandioser stimmlicher Agilität gesungen, da paart sich perlende Leichtigkeit mit dynamischer Intensität!

Martin Zysset sang den Schmidt bereits 2017 und ist nun erneut in dieser dankbaren Charakterpartie zu erleben. Zusammen mit dem Johann von Andrew Moore sprechen sie gerne den Tränken des Bacchus zu, bringen etwas Leichtigkeit in die Schwere der Handlung. Die beiden sind ein herrliches Paar. Valeriy Murga gibt einen sympathischen Bailli, der seiner reichen Kinderschar (zu der ja auch die beiden ältesten Kinder Charlotte und Sophie gehören) ein liebevoller Vater ist. Als romanische Klopstock-Anhänger bringen Brühlmann (Jonas Jud) und sein Käthchen (Flavia Stricker) einen lichten Farbtupfer in die Tragödie und die Leiden Werthers und Charlottes.

Fazit: Es gibt nur noch drei Vorstellungen dieser fantastischen Produktion. EIN MUSS!

Kaspar Sannemann 29. Januar 2023


Werther
Jules Massenet

Oper Zürich

23. Januar 2024

Regie: Tatjana Gürbaca
Dirigat: Giedrė Šlekytė
Philharmonia Zürich