Beglückender Gluck
Wer herrscht über das Volk – die Gottheit, der König oder der Pope?
Lassen Sie Ihren Kritiker mit einer kleinen historischen Klatschspalte beginnen. Bekanntlich beherrschte der Gegensatz zwischen Frankreich und dem Haus Habsburg/Österreich fast fünf Jahrhunderte europäischer Geschichte. Zwischendurch gab es hier und da einen Versöhnungsversuch. Nach der ebenso unnatürlichen wie unnützen Allianz zwischen Maria Theresia und Frankreich im siebenjährigen Krieg versuchte es die Herrscherin später noch einmal mit dynastischen Mitteln und verheiratete 1770 ihre Tochter Maria Antonia Josepha Johanna mit dem französischen Dauphin Louis Auguste. Auf deren Reise nach Paris veränderte sie vor Straßburg ihre Identität in Marie Antoinette. Leider ging die Geschichte gar nicht gut aus. Christoph Willibald Gluck war schon in Wien der Musiklehrer Maria Antonias gewesen. Als am Wiener Hof bekannt wurde, dass Gluck mit seinen neuen Opernideen auch in Paris reüssieren wollte, gab ihm Maria-Theresia 1774 eine geheime Mission mit. Er solle ihr doch getreulich berichten, was im Eheleben ihrer Tochter mit dem Dauphin, der im gleichen Jahr noch König werden sollte, nicht stimmte. (Erst 1778 wurde das erste Kind des Königspaars geboren!) Ob Gluck diesem geheimen Auftrag der Maria Theresia genügte und Material lieferte, ist ihrem Kritiker nicht bekannt. Bekannt aber ist, das Gluck in Paris, wo man seine Opern als „französische“ vereinnahmte und auch heute seinen Namen noch wie Glück ausspricht, réussierte und das wohl nicht zuletzt, weil ihn Marie Antoinette protegierte. Die Direktion der Pariser Oper befürchtete nach Durchsicht des Materials für Iphigénie en Aulide, dass das überkommene Programm, das seit den Zeiten des Sonnenkönigs immer noch überwiegend auf Giovanni Battista Lulli und Jean-Philippe Rameau basierte, keine Akzeptanz mehr finden würde, und bestellte gleich fünf weitere Opern bei Gluck, die tatsächlich bis 1779 entstanden und allesamt zu Erfolgen wurden. Die letzte davon war die taurische Iphigenie. (Gluck konnte allerdings das gesamte Pensum mit Neukompositionen nicht stemmen und schob der Pariser Oper mit Orphée und Alceste französische Bearbeitungen älterer Werke unter…
Michael Hauenstein (Kalchas), Bernd Valentin (Agamemnon)
In Kaiserslautern nahem man sich im Rahmen eines Antikenprojekts des Stücks vornehmlich als klassische Tragödie mit ihren Personalkonflikten und unentrinnlich scheinenden Schicksalswendungen an. Aber die Regie macht noch viel mehr daraus. Der Regisseur Benjamin Schad stellt die Handlung auf einen ziemlich leeren fast invariablen Bühnenraum. Die (scheinbare) Unentrinnlichkeit der menschlichen Schicksale vor göttlichen Verfügungen wird durch schwere bühnenhohe undurchdringliche dunkle Pilasterwände gekennzeichnet (Bühnenbild: Anna Kirschstein). Zur Auflockerung gibt es noch ein rissiges helles Fundament am Bühnenboden; mehr nicht. Darauf bewegen sich Protagonisten und Chor in einfachen zeitlosen leicht fantasie-behafteten Kostümen in derber Linnenfarbe (Kostüme: Stephan Rinke). Die Würdenträger der Geschichte – und das sind fast alle Protagonisten – werden vom Chorvolk nur durch spärliche Kostümzusätze, meist nur einen einfachen Umhang, abgehoben. Besonders unwohl im Umfeld der göttlichen Forderung nach Opferung seiner Tochter fühlt sich der König Agamemnon, der am liebsten seine einfache Textilkrone weggesteckt hätte; aber der Großhierarch Kalchas nötigte ihn immer wieder, dieses Insigne zu tragen.
Die Regiearbeit zeichnet sich durch eine schöne schlüssige Personenführung aus. Dabei gab es unzählige kleine Gesten, mit welchen die Darsteller charakterisiert wurden. Auffällig ist von Beginn an, dass der Oberpriester Kalchas, auch wenn er gerade keinen solistischen Einsatz hat, hinten auf der Bühne herumschleicht und das Geschehen unter Kontrolle hält, dabei immer zynisch ungeduldig mit einem Schlüsselbund spielt. Ganz klassisch die Chorführung, das Auftreten, die Raumnutzung, die expressiven Umgruppierungen. Im klassischen Sinne kommentiert der Chor, treibt aber auch in kurzen aufpeitschenden Forderungen nach dem Opfer die Handlung voran: das geschieht auch aus dem Off, während auf der Bühne das Personal durch Listen, Streitereien oder Ratlosigkeit dem Schicksal trotzen will. Die Untreue-, Eifersuchts-, Versöhnungs- und Liebesszenen zwischen Iphigenie und Achill verleihen der Geschichte zusätzlichen Stoff, um sie über zwei Stunden Spielzeit tragfähig zu halten. Achill schwingt sich zunehmend zur handlungsbestimmenden Führungsfigur auf und bedroht die Griechen, die das Opfer fordern. Das geht Kalchas zu weit. In Veränderung des heute üblichen Zweitfassung des Opernschlusses (Libretto: Marie François-Louis Gand Bailli Du Roullet genannt „le Blanc“ – welch ein Name!) tritt als Dea ex machina nicht die Göttin Diana mit der versöhnlichen Botschaft auf, sondern der Hohepriester verkündet die Begnadigung angeblich im Namen der Diana aus eigener Machtvollkommenheit, als ihm das Geschehen zu entgleiten drohte. Dies entspricht der ursprünglich nicht goutierten Erstfassung des Librettos, die Benjamin Schad geschickt für sein Inszenierungeskonzept nutzt:
Adelheid Fink (Iphigenie), Damenchor
Die Göttin gibt es gar nicht. Alles ist zur Disziplinierung des Volks und seiner Notablen vom Hohepriester inszeniert. Völlig logisch aus der Rückschau – und aus den geschichtlichen Erfahrungen. Kalchas hat sich hier geriert wie der Großinquisitor; selbst der König ist nur Marionette. Zur Bestätigung dessen unterbindet er in der folgenden Passacaille, dass sich das Volk mit Spielzeugschwertern fröhlich spielerisch bekriegt. Eine solche Feier ist nicht vorgesehen; vielmehr lässt er echte Gewehre verteilen und schickt das Volk in den Krieg. Im Bühnenprospekt öffnet sich ein großes Fenster mit Schlachtenrauch, dumpfe, schauerliche Schläge der großen Trommel begleiten den finalen Chor „Partons, volons à la victoire!“ Es folgen zehn Jahre trojanischer Krieg bis zur Erschöpfung beider Kriegsparteien… obwohl sich gloire auf victoire so schön reimt.
Die ersten Moll-Takte der Ouverture stimmen auf die Tragödie ein, ehe die kräftigen Passagen der tiefen Streicher mit Unterstützung der Pauke das Heroische betonen. Etwa vierzig Musiker des Orchesters des Pfalztheaters spielten mit hoher Präzision auf. Jeder Ton saß. Beglückender Gluck; er hätte noch beglückender sein können, wenn der Dirigent Markus Bieringer den Orchesterpart neben den energiegeladenen, markanten Passagen mit der sehr wirkungsvollen Instrumentierung dynamisch besser ausdifferenziert hätte. So gingen leider neben den dramatischen Schärfungen Feinheiten der Partitur verloren. Hier könnte noch nachgebessert werden. Das trifft auch auf die Koordination zwischen Graben und Bühne zu, wo es häufig zu Ungenauigkeiten kam. Auch die können noch behoben werden; vielleicht ist auch das eine oder andere Tempo zu ehrgeizig angegangen worden. Das schmälert aber alles in keiner Weise den guten Eindruck, den das Orchester an diesem Abend hinterließ. Prächtig schlug sich der von Ulrich Nolte einstudierte Chor des Pfalztheaters, der auch wie schon gesagt auch in seinen Bewegungsmustern voll überzeugte.
Adelheid Fink (Iphigenie), Bernhard Berchtold (Achill), Melanie Lang (Klytämnestra)
Durchweg überzeugende Leistungen auf hohem Niveau bot auch das Sängerensemble, das bis auf einen Gast aus den Kaiserslauterer Reihen besetzt war. Größte Überraschung dabei war gute französische Diktion der Solisten, die auch an weit größeren Theatern meistens nicht erreicht wird. Sicher spricht das nicht nur für Glucks Sprachgefühl, der sich ja sehr interessiert an J.J. Rousseaus („des berühmten Genfers") Thesen zum Thema Französisch und die Oper gezeigt hatte, sondern sicher muss auch dem Sprachcoach Pierre-Eric Monnier besondere Anerkennung für die geleistete Arbeit ausgesprochen werden. Die Oper beginnt mit ziemlich langem Duettieren zweier tiefer Stimmen. Bernd Valentin glänzte mit seinem kultivierten Bassbariton, dessen warmes Volumen er sehr facettenreich einzusetzen wusste, in der Rolle des Königs Agamemnon. Seinen Widersacher, den Oberpriester Kalchas gestaltete Michael Hauenstein mit mächtigem wohltönendem Bass. Da schien er schon mit seiner Durchschlagskraft und seiner Körpergröße den schwankenden König mit seiner wesentlich filigraneren Intonation in den Senkel stellen zu wollen: zwei großartige Sänger und Gestalter passend zum Inszenierungskonzept. Alexis Wagner überzeugte als der Bote Arkas in seinen leider nur kurzen Passagen mit seinem kernigen Bass.
Adelheid Fink (Iphigenie), Melanie Lang (Klytämnestra)
Mit dem Gasttenor Bernhard Berchtold war für die Rolle des Achill ein Sänger der Ausnahmeklasse für die zwischen Barock und Mozart liegende Rolle aufgeboten. Mit Beweglichkeit und Gewandtheit seiner Stimme, mit klaren, hellen und sehr festen Höhen gestaltete er die lyrischen Passagen mit feinem Gespür und ließ es auch an kämpferischer Kraft nicht fehlen, wenn es galt, sich – einer gegen alle – für Iphigenie einzusetzen. Glanzlichter setzten auch die beiden Frauenstimmen. Adelheid Fink gab die mädchenhaft wirkende Iphigenie (sie kam als barfüßige Schönheit vom Lande und musste erst einmal lernen, Schuhe zu tragen) mit warm grundierten Sopran. Zu Beginn wirkte sie noch etwas eng in den Höhen, sang sich aber zunehmend frei und gelangte zu leuchtenden, schön geführten Passagen. Melanie Lang begeisterte als gertenschlanke Klytämnestra, die sie als standesbewusste, sehr ehrgeizige und strenge Person darstellte, mit ihrem schlanken schön fokussierten Mezzo, den sie glasklar quasi vibratofrei und ohne jede Schärfe in der Höhe aufblühen ließ; auch hier eine stimmliche Idealbesetzung.
Als Gluck 1774 nach Paris ging war er 60 Jahre alt. Das erinnert uns daran, dass 2014 Gluck-Jahr ist: 300. Geburtstag! Aus den Spielplänen der meisten deutschen Opernhäuser geht das nicht hervor. Das Pfalztheater bringt Glucks aulische Iphigenie im Rahmen eines Antikenprojekts – ein anderer Kontext! Diese Aufführung der Iphigenie in Aulis reiht sich in Kaiserslautern in eine Reihe von ganz beachtlichen Produktionen ein, über die der Opernfreund immer gern berichtet hat. In seiner Geschlossenheit von Qualität der Inszenierung, dem hohen Niveau der Solisten und – cum grano salis – der Orchesterleistung ist es vielleicht sogar die beste Produktion der letzten Jahre am Pfalztheater.
Die Premiere war nicht ausverkauft; die Folgevorstellungen werden es sicher sein. Der Riesenbeifall des Publikums war allen Beteiligten gerechter Dank. Es gibt bis zum 3. Mai noch sieben Mal Gelegenheit, sich diese Produktion anzuschauen: nicht versäumen!
Manfred Langer, 23.02.2014
Fotos: Thomas Brenner