Bayreuth: Bayreuth Baroque: Jordi Savall und Hespèrion XXI

Stadtkirche, 10.9.2020

Programm No. 5 des neuen Festivals: Auftritt Jordi Savall und zwei Freunde, die wesentlich mehr zum Programm beisteuern als den Basso continuo zum Melodieinstrument. Schließlich spielen sie Musik aus jenen Zeiten, in denen die Improvisation groß geschrieben wurde und zwischen Neben- und Hauptstimmen nicht wirklich unterschieden wurde. „Ostinate Harmonieschemata im Cembalo, über denen die Gambe hochvirtuose Umspielungen ausführt“, wie Savall schrieb: Das sagt noch wenig. Spaß und Tiefsinn: auch dies ließ sich im Konzert, das der Gambist in der Stadtkirche veranstaltete, zwanglos zeigen. Das „musikalische Europa“, wie der Titel des Abends lautet, war, so betrachtet, extrem musikalisch: von Spanien über England, Italien, Deutschland nach Frankreich, einen Zeitraum umfassend, der von 1510 bis 1750 reichte, somit von der Renaissance zu jener Epoche, die man einmal als Barock bezeichnet hat; dass der Epochenbegriff aufgrund seiner Praktikabilität und langjährigen Einbürgerung unverzichtbar scheint und gleichzeitig, angesichts der durchaus verschiedenen Stile des grob definierten Zeitraums, problematisch ist, sei nur am Rande bemerkt.

Liest man, dass Diego Ortiz, eben jener um 1510 geborene Komponist, als Kapellmeister am vizeköniglichen Hof Fernando Álvarez de Toledos zu Neapel wirkte, und hört man dann das, was Jordi Savall (an der Bassgambe), Xavier Díaz-Latorre (Gitarre) und Andrew Lawrence-King (an der italienischen Barock-Tripelharfe) aus der einstimmigen Notation der Melodien der Recercades sobre Tenores herausholen, wähnte man sich weniger in einer Kirche als in einer Kneipe – freilich in einer Kulturkneipe. Denn das Trio jazzt sich geradezu in die Musik des 16. Jahrhunderts hinein, improvisiert mit vielen kleinen Noten über die Saiten und findet mit der Variation über Greensleeves (der Romanesca VII) zu einem Leitmotiv des Abends, das mit Greensleeves to a ground eines englischen Anonymus weitergeführt wird – der Sechsachteltakt gerät in einen wilden Tanz. Musicall Humors, der Titel des Stücks von Tobias Hume, ist wegweisend: wenn man „Humor“ als Einfallsreichtum, Laune, Spielfreudigkeit auffasst – und wenn Savall mit seinen Arpeggien und einem sehr weichen col legno-Effekt die Hörer entzückt. Apropos Tanz: Heftig bewegte Synkopen passen ideal zu den Improvisationen über die mexikanische Guaracha.

Und wie klingt Deutschland? Nicht weniger akzentuiert, wenn Savall an der Gambe sitzt. Die starken Betonungen auf den längeren Noten der Allemande von Bachs Cellosuite BWV 1011 wirken ebenso experimentell wie das nahtlos folgende Stück des Niederländers Johannes Schenck; Allemande und Aria burlesca (aus Schencks Gambensuite op. 9 L’Echo du Danube) bilden ein kleines Diptychon: langsame Einleitung und schneller Satz, die Musik eines jungen Wilden von mittlerweile 82 Jahren, ergänzen sich so vollkommen wie die Harfe und die Theorbe, wenn Díaz-Latorre (an der Theorbe) und Andrew Lawrence-King als frühe Beispiele der Vor-Oper und des oratorischen Musikdramas die Sinfonia zu Cavalieris Rappresentazione di Anime e di Corpo und den Ballo del Gran Duca aus dem Florentiner Intermedium La pellegrina zauberhaft ins Kirchenschiff hallen lassen. Der Gitarrist hatte schon vorher mit zwei Sätzen aus der Instrucción de música sobre la guitarra espanola des Gaspar Sanz die Gelegenheit, solistisch zu glänzen: auch mit einem Canarios. Der Name sagt alles, Savall lässt es zuletzt bei seinen Improvisationen über diesen spanischen Tanz buchstäblich zwitschern.

Die Europareise auf den Spuren der Gambe wäre jedoch unvollkommen ohne einen Besuch bei Marin Marais, dessen Voix Humaines es erklärbar machen, wieso dieses Instrument einen derartigen Rang hat: denn dieses Instrument singt mehr als jedes andere, auch wenn man nicht davon ausgeht, dass die Musik, wie es in dem Gambenfilm Tous les matins du monde heißt, allein „für die Toten“ gespielt wird. Denn die höchst einfallsreichen Variationen über das berühmte Thema der spanischen Folia zeigen, dass Marais auch für die Lebenden komponierte – vorausgesetzt, die Musik wird von Meistern wie denen erfunden, die wir am Abend beim Bayreuther Musikfest hören durften.

Frank Piontek, 11.9.2020

Foto: ©Andreas Harbach