Bayreuth: „Gesänge aus isländischen Sagen“

Wahnfried, 23.8.2022

Sigurður Bragason, Bariton / Hjálmur Sighvatsson, Klavier

Man sprach in der Familie nicht oft über die Wikinger. „R. kommt“, schreibt die Gattin am 27. November 1882 in ihr Tagebuch, „durch den Ätna auf den Hekla und Island und das Leben der Vikinger dort.“ Ein Wikinger-Drama hat Wagner nicht komponiert – aber die meisten Motive des Ring des Nibelungen entstammen einer Kultur, die man früher als „nordisch“ bezeichnet hat. Man sollte sie besser „isländisch“ oder „altisländisch“ nennen, denn die beiden Eddas und die Heldenlieder und Sagas waren – neben den antiken Motiven – die Hauptquellen der Tetralogie; vor 20 Jahre hat der ehemalige Vorsitzende des isländischen Wagner-Verbands, Árni Björnsson, darüber ein gutes Buch geschrieben.

Nun kamen sie also gleichsam zurück in den Saal von Haus Wahnfried. „Aufgeführt werden“, lesen wir im Waschzettel des Konzerts, „isländische Volkslieder über tapfere Wikinger, Riesen und den Ritt der Götter, aber auch Lieder, die einst in geselliger Runde im Saal von Haus Wahnfried erklangen.“ Es kamen also ein verdienter Sänger und ein Pianist (und der isländische Botschafter Indiens, der Bruder des Sängers) ins Haus, um Liedgut aus ihrer Heimat vorzutragen: als völlig stimmige Interpretation am musealem Ort. Sigurður Bragason und sein langjähriger Begleiter Hjálmur Sighvatsson, mit dem er wie schlafwandlerisch durch die Gesänge Islands wandelt, bringen einen unverwechselbaren Ton und ein höchst seltenes Repertoire in den Saal, der den Abend zu einem einzigartigen macht. Volkslieder in Bearbeitungen von Jón Leifs (dem wir die Lieder einer Saga-Symphonie verdanken), Hjálmur Sighvatsson, Jón Àsgeirsson und Sveinbjörn Sveinbjörnsson, Kunstlieder von Sigvaldi Kaldalóns und Àrna Thorsteinsson, erzählen, zyklisch nach den Titeln der Ring-Tetralogie geordnet, Geschichten von Tod und Liebe, Kampf und Natur, Mythos und Traum. Fuhren die Wikinger, allerdings bereits Jahrhunderte vor der Abfassung der isländischen Texte, mit ihren Knörrs über See, durchmessen der Sänger und der Mann am Klavier die Gefilde einer toten Welt, in der noch manch Spuren gegenwärtiger Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen nisten. Bragason und Sighvatsson machen das schlicht einheimelnd, wozu die meisterhafte Beherrschung der Akustik durch kluge Zurückhaltung der Dynamik nicht wenig beiträgt. Der Sänger trägt sozusagen die Seele Islands im Herzen und in der Stimme. Man hört förmlich, welchen inneren Anteil Bragason an den Liedern nimmt, die er wie ein Barde vorträgt: an exponierten Stellen der Intimität mit hohler Stimme, an den „heroischen“ mit dem Pathos eines Gesangs aus dem Geist der patriotischen Bewegung, die die isländische Liedkunst mit der Gegenwart zu verbinden vermag. Völuspá, jene Visionen von der Weltentstehung und vom Weltuntergang (Wagner kannte den Text sehr genau), ist immer, wenn auch augenblicklich eher in Hinblick auf das Ende, wie der Interpret anmerkt. Und Sighvatsson spieltden Wahnfried-Steinway so deliziös, dass sich der Besuch schon deshalb gelohnt hat.

Es sei dahingestellt, ob die Lieder des 2. Teils „einst in geselliger Runde im Saal von Haus Wahnfried erklangen“. Wagner hätte sich vermutlich darüber gewundert, Nietzsches Chamisso-Vertonung Ungewitter im Saal erklingen zu wissen, aber es schön, das so schlichte wie hübsche Lied einmal in unmittelbarer Nähe und in echt zu hören: eine Ballade, passend zu den archaischen Sagen einer isländischen Vorzeit. Liszts Im Rhein, im schönen Strome gibt den Musikern die Gelegenheit, sich in die deutsche Romantik Heinescher Prägung und Lisztscher Emphase zu begeben, schließlich runden drei Wagner-Lieder den Abend ab: das Rigaer Poem Der Tannenbaum und die beiden Pariser mélodies namens Mignonne und Les deux grenadiers. Zartheit, Pathos und Düsternis: mit diesem Dreiklang beendet das Duo ein Programm, dem mit einem weiteren kurzen isländischen Volkslied das letzte Tüpfelchen aufgesetzt wird.

Man wird die Lieder aus dem Hohen Norden nicht so bald, wohl nie mehr live hören können – umso schöner, dass dort, wo Wagner den Ring vollendete, eine Erinnerung an die Kultur ins Haus gebracht wurde, der Wagner stofflich so vieles verdankte. Der Beifall war den liebenswürdigen, authentisch agierenden Künstlern denn auch sicher.

Frank Piontek, 24.8.2022

Foto: ©Wagnermuseum, Bayreuth