Bayreuth: „La clemenza di Tito“, Wolfgang Amadeus Mozart

Michael Hofstetter, der künstlerische Leiter der Gluck-Festspiele 2024, nennt es, mit wohlbedachten Worten, eine „Ergänzung“. Er hätte die Aufführungen der 1752 komponierten Clemenza di Tito des Christoph Willibald Gluck und von Mozarts gleichnamiger, 1791 uraufgeführter Oper auch als einen „Vergleich“ bezeichnen können, aber er tat’s nicht.

© Gluck Festspiele

Es hat schon einen tieferen Sinn, dass die Aufeinanderfolge der beiden Opern nicht als Konfrontation, sondern als Abfolge bezeichnet wird, auch wenn die Präsentation eines Mozartoschen Opernhauptwerks kaum als „Ergänzung“ aufgefasst werden kann, ja sollte. Es gibt schließlich gute Gründe, wieso der Wiener Komponist in seinem vielzitierten wie höchst ungewöhnlichen Eintrag in sein Kompositionsverzeichnis seine Clemenza di Tito als „vera opera“, als „wahre Oper“ also titulierte. Hört man am Abend Mozarts spätes Stück, denkt man keine Sekunde lang an Glucks Opera seria – und hörte man zwei Tage zuvor, am selben Ort, dem Markgräflichen Opernhaus, die Gluck-Fassung des komponierten Metastasio-Textbuchs, denkt man (denke ich) nicht einmal dann an Mozarts Meisteroper, wenn man sich gerade intensiv mit Mozarts „vera opera“ beschäftigt hat. Meisterwerke müssen eben nicht verglichen werden, oder anders: Die Kunstgeschichte ist keine Olympiade, in der es weiter, schneller, höher geht – in diesem Fall müsste gefragt werden, wieso der Tristan „besser“ als Le Nozze di Figaro und der Orfeo (von 1605) „schlechter“ als Wozzeck wäre. Die Fragen gebt verloren. Bringen also die Gluck-Festspiele gleich zwei Clemenza di Tito-Opern auf die Bühne, darf man sich gerade über die Andersartigkeit zweier aus zwei verschiedenen Welten stammenden Großwerken freuen, ohne das eine mit dem anderen zu vergleichen. Nur ist die Mozart-Oper gewiss keine „Ergänzung“, sondern einer der Höhepunkte in dem aus „nur“ fünf Programmen bestehenden Festival – aber die haben es in sich.

In sich hatte es auch die Produktion, die das Tyl-Theater in Pilsen, das inzwischen eine Art Hausrecht im Markgräflichen Opernhaus besitzt, nach Bayreuth geschickt hat. Gerettet wurde der Abend durch eine Sängerin, die aus Würzburg eingeflogen wurde, um die Interpretin der Servilia – nein, nicht zu „ersetzen“, sondern die Rolle und die Oper möglich zu machen. Akiho Tsujii ist denn auch ein formidabler Sopran, der die bedingungslos zu ihrem Gefühl stehende Geliebte des Annio vollkommen bringt: als Figur, die, so Joachim Kaiser in einem seiner schönsten Bücher – Mein Name ist Sarastro. Die Gestalten in Mozarts Meisteropern von Alfonso bis Zerlina  – „mehr als alle anderen Protagonisten des Titus beneidenswert mit sich, ihrem Wollen und ihrem Liebesgefühl im reinen“ ist. Haltung uns Stimme sind hier eins. In diesem Punkt muss man – und die musikdramatische Darstellung Akiho Tsujiis macht es elementar klar – Stefan Kunze widersprechen, der vor 40 Jahren in seinem kardinalen Buch namens Mozarts Opern behauptet hat, dass die Handlung der Oper nur dazu diene, Titus’ Tugend ins Licht zu setzen. Schaut und hört man sich eine Sängerdarstellerin wie Akiho Tsujii an, bekommt man den Bescheid, dass es durchaus Individuen eigenen (Gefühls- und Handlungs)Rechts sind, die um den Kaiser herum organisiert worden sind, ja: dass die einst geäußerte Überzeugung, dass es sich nicht allein bei den Seria-Vertonungen des Metastasio-Librettos, sondern noch bei Mozarts Oper um eine „Konzertoper“ handele, die „irgendeine künstlerische Wirkung“ (O-Ton Ernst Lert) entfessele, um einen unbegreiflichen Irrtum handelte.

© Gluck Festspiele

Dazu bedarf es freilich nicht allein guter Sänger und Darsteller, auch einer Regie, die das Werk ernst nimmt, was im radikalen Fall darauf hinaus laufen konnte, das obligatorische lieto fine, das happy ending der wieder einmal für eine Inthronsiation komponierten Festoper zu konterkarieren; man hat es öfters erlebt: Die Titus-Welt entlässt nur unglückliche Menschen, einschließlich des Mannes, der immerzu, fast wie pathologisch, auf sein persönliches Glück verzichtet, um andere Menschen glücklich zu machen. Im Licht der modernen Psychologie wirkt noch Mozarts Titus wie eine Marionette seines eigenen Milde- und Tugendwahns – im Licht des Jahres 1791 repräsentierte er die (auch musikalisch) notorisch blasse Abzieh- und Vorbildfigur des gerechten Herrschers: ein in französischen Revolutionszeiten geschaffener Spiegel für den neuen Kaiser Leopold II. In Pilsen und Bayreuth sehen wir auf einen Mann, der einerseits eine sanfte Tugenddiktatur installiert hat, dem sich die Untertanen und das Chorkollektiv (betont langsam schreitend) meist schon deshalb unterordnen, weil sie alle (von Belinda Radulović) in ein uniformes Schwarz gekleidet sind. Nur Titus darf ein elegantes Beige tragen: fast als Primus inter pares. Der Regisseur ROCC setzt allerdings, wie es ein deutscher Regisseur an einem deutschen Opernhaus sofort gemacht hätte (das sind so die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Tschechien) nicht auf die Decouvrierung der Titusschen Tugenddiktatur, auch wenn die (auch musikalischen) Ähnlichkeiten zwischen den Imperium des Kaisers und dem Sonnenstaat des Sarastro, der gleichzeitig entstand, unüberhörbar sind. Nein, Titus ist kein Bösewicht aus „guten“ Absichten, er scheitert am Ende auch nicht mit seinem idealistischen Versuch, die Menschen sanft zum Guten zu zwingen, indem er als bewusster Anti-Macchevialist alle politische Vorsicht fahren lässt. Ein halbes Jahrhundert später wird ein römischer Volkstribun namens Rienzi erfahren, was es heißt, politische Feinde zu begnadigen. Brennt auch in der Pilsener Inszenierung das Kapitol, reihen sich im Finale die sechs Protagonisten an der Rampe auf, um, das ist klassisch, den Lobspruch für den Kaiser coram publico hinauszusingen. Das ist nur eine Möglichkeit, mit dem verdächtig gewordenen Glücksversprechen des traditionellen Opernfinales fertig zu werden – aber es ist eine Möglichkeit. Und so, wie die sechs eingehüllten Stellagen, die nicht zufällig die Sechszahl tragen, zu Beginn des zweiten Teil von brandbedingt allen Umhüllungen befreit sind, beschließen die sechs Überlebenden, in ein neues Leben zu gehen, das alle Katastrophenerfahrungen transzendiert: ganz im Sinn des Mottos des Festivals: „Über die Menschlichkeit der Mächtigen“ – was die finsteren Aspekte der „Menschlichkeit“ bewusst ausschließt, oder anders: hoffnungsvoll umdeutet. Schon die Pöbeleien gegen den Festredner des Eröffnungsabends, Pater Anselm Grün, haben allerdings bewiesen, dass sogar ein „Kulturpublikum“ nicht völlig in der Lage ist, idealistische Menschlichkeit an den Tag zu legen.

Khanyiso Gwenxane hat die nicht ganz dankbare Aufgabe, dem Kaiser Leben zu verleihen, also einer Figur, die eine Art unbewegter Beweger ist, indem alle Aktion nicht von ihr ausgeht. Gwenxane schafft es allerdings durch seine sympathische Präsenz und seine charakteristisch ausdrucksvolle, leicht körnige wie lyrisch beseelte Stimme aus dem Mann, der noch für Alfred Einstein eine der Puppen des Mozartschen Tito-Universums war, einen Menschen zu schaffen. Wir glauben ihm sein Gutsein – und wir können seinen kurzfristig aufwallenden und sogleich besiegten Zorn gegen die Putschisten durchaus ernst nehmen, sodass sogar seine auffallend ähnlichen, im Vergleich zu allen anderen Arien, Duetten, Terzetten etc. Musikstücken des Abends einschichtigeren Arien Beifall provozieren. Die einzige Bewegerin der Titus-Dramaturgie heißt Vitellia; Francesca Lombardi Mazzulli verleiht ihr Kraft, Beweglichkeit – und, das ist schwer symbolisch, Farbe. Sie hat als einzige eben diese: im Augenblick des scheinbaren Triumphs darf sie ein kräftiges, blutiges Rot. Ansonsten glüht der große Lorbeerleuchter über ihren Häupten nur einmal auf, wenn, und auch dies ist ein Relikt des symbolischen Theaters, Titus seinen Verzicht auf Servilia erklärt. Die zerrissene Frau – zerrissen zwischen dem Hass auf den Kaiser und der Gier, neben ihm zur Kaiserin erwählt zu werden – tanzt buchstäblich auf den Tisch, bevor sie, als Einzige, am Ende des 1. Akts, nach dem berühmten, durchaus noch ein wenig von Glucks Ausdrucksmitteln berührten Quintett, zusammenbricht. Mazzulli singt ihren Part deutlich, doch nicht schrill, entwickelt eine gehörige dramatische Kraft in ihren Spitzentönen und den Momenten der Verzweiflung, denn auch Vitellia ist, dank Mozarts Genie, ein charakterlich vielfältige Figur, keine Puppe. Mag sein, dass die Festoper aufgrund der handlungsmäßig defizitären Stellung des Titus’, unter den Händen des Librettisten Caterino Mazzolà (der auf der Homepage des Festivals seltsamerweise zu Gunsten von Metastasio unterschlagen wird) kein vollkommenes dramaturgisches Meisterwerk werden konnte – wenn Vitellia, Servilia, Sesto und Annio auf der Bühne stehen und Gwenxane interessierend agiert und singt, befindet man sich in einer „wahren“ Mozart-Oper. Sesto, der von Vitellia missbrauchte Täter, ein Opfer der halben femme fatale, ist Vero Miller. Sie singt wohllautend wie dramatisch involviert und spielt den von seinem Schuldgefühl zerfressenen Jüngling gestisch fast zu deutlich. Annio heißt Barbora Polášková de Nunes-Cambraia, sie singt die Partie ansprechend, doch mit einem leicht übergroßen Ton: der psychischen Ausnahmesituation angemessen, in der diese nicht für heroische Situationen gebaute Seele ausgeliefert wird. Zuletzt muss, natürlich neben dem von Jakub Zicha einstudierten Chor, Jakub Hliněnský in der Confidenten-Rolle des Publio genannt werden; er ist der Einzige, der am Abend mit einer Pistole herumfuchteln darf (bevor sie ihm kurzfristig von Sextus entrissen wird): die einzige Erinnerung an das als „german trash“ denunzierte „Regietheater“. Ansonsten bewegt man sich auf der Bühne in einem maßvollen Theaterraum, der in den passenden barocken Dekorationen des Markgräflichen Opernhauses (römischer Kaiserpalast) von der Festtafel des Beginns zur zurückhaltend ausgebrannten Stellagenlandschaft reicht.

© Gluck Festspiele

„Historisch war sie ein höchst moderner Beitrag zur Verwandlung der metastasianischen Opera seria in die klassizistisch-heroische Oper der Jahrhundertwende“, schrieb Ludwig Finscher über die operngeschichtliche Bedeutung des Werks, das heute nicht mehr im Verdacht steht, eine blutleere Konzertoper zu sein, auch wenn Wolfgang Hildesheimer noch 1977 in seinem grandiosen wie gelegentlich grandios daneben hauenden Riesenessay über Mozart meinte, dass sich das Werk wie ein Nachzügler der Gattung Opera seria ausnehme.  Die Aufführung macht nicht zuletzt aufgrund ihres orchestralen Grunds klar, dass Mozart keine parodierende, sondern eine eine originelle Oper gelang, die in die Zukunft wies. Wer also Spontini mag (ich mag Spontini…), mag auch La Clemenza di Tito, die einzige proto-klassizistische Oper W. A. Mozarts. Michael Hofstetter leitet das Orchester des J.K. Tyl-Theaters Pilsen: leider ohne das Bassethorn,das am Abend, während der beiden Arien, von der Klarinette ersetzt werden muss. Dem Fachmann fällt’s auf, dem Laien dürfte es egal sein, auch wenn der dunklere Klang des Blasinstruments nicht durch den der Klarinette ersetzt werden kann. Man spielt einen modernen, blechbläserrauen, holzbläseredlen und beweglichen, sehr lichten und paukenklaren Mozart, also ein wenig anti-böhmsch (nichts gegen Karl Böhms Mozart-Interpretationen!). Nicht nur das Katastrophen-Quintett, die Mauerschau am Ende des 1. Akts, gelingt bezwingend, auch wenn die Integration des schrecklich zirpenden Cembalos in den Orchestersatz verboten werden sollte.

Dies wäre schon der einzige gewichtige Kritikpunkt am Abend. Der Rest ist Liebe – dass am Ende die übliche, von den Römern selbst immer noch propagierte Umdeutung der ROMA in die rückläufige AMOR praktiziert und das Banner des ersten Akts, das im zweiten pur schwarz erschien, schließlich zum Liebesband wird, hat einen Sinn, über den man, trotz allen Zweifeln am Idealismus, nachdenken kann. Ein glückliches Ende, in dem einmal nicht eine „Gleichschaltung“, der „totale Triumph der Anpassung“ (Martin Kušej), ein totalitärer Kontrollzwang und die Abwesenheit allen Glücks die Szene bestimmt: Warum einmal nicht?

Frank Piontek, 17. Mai 2024


La Clemenza di Tito
Wolfgang Amadeus Mozart


Gluck-Festspiele
Markgräfliches Opernhaus Bayreuth

Premiere: 11. Mai 2024

Regie: ROCC
Musikalische Leitung: Michael Hofstetter
Orchester des J.K. Tyl-Theaters Pilsen