In der neuesten, jüngst erschienenen Auflage des Köchel-Verzeichnisses (unsere Rezension) trägt es nach wie vor die Nummer 15p: ein Stück in g-Moll. Man ist immer wieder erstaunt darüber, wie so etwas im Kopf eines achtjährigen Knaben zu entstehen vermag: ein vermutlich als Kopf einer Sonate konzipierter Sonatensatz, der nicht allein orchestrale Züge trägt. Kein Wunder, dass ihn Neville Marriner bei der Einspielung des Londoner Skizzenbuchs in einer Orchesterfassung vorlegen konnte, die so klingt, als habe Mozart ihn für ein großes Instrumentalensemble geschrieben. 72 Takte g-Moll, sie haben es in sich – aber man muss sie spielen können, um sie in ihrer ganzen Erstaunlichkeit würdigen zu können.
In Bayreuth ist es Michael Wessel, Klavierprofessor an der Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik und vielleicht nicht zufällig Autor mehrerer in jedem Sinne schwergewichtiger Bücher über musikalische Interpretation, der für die Mozart-Pflege sorgt. Hier, wo immerhin Mozarts Bäsle ihre letzten Jahre durch die Straßen ging, spielt Mozart keine allzu große Rolle im Konzertleben. Die Mozartgesellschaft Bayreuth aber veranstaltet alle paar Jahre ein Konzert, in dem Wessel zeigt, was das eigentlich ist: Mozart-Interpretation. Steht der Klavier-Mozart bei Mozart-Verächtern nach wie vor im Verdacht, allzu oft wenn auch großartiges Geklingel produziert zu haben, gelingt es Wessel, bei Steingraeber (der Saal ist bis auf den allerletzten Platz gefüllt) und auf dem Steingraeber (einem modernen Konzertflügel) einen Sound zu produzieren, der immer wieder an den Klang erinnert, für den Mozart seinerzeit seine Sonaten etc. komponierte. Dafür sorgt nicht nur die Sordino-Einstellung, mit der der Pianist immer wieder dunkle Passagen, als Kontrast und zur Freude der Hörer, in seine Spiel-Arten einflicht. Artikulation ist das zweite Zaubermittel. Der Sonatensatz KV 15p klingt betont robust (nicht primitiv), das g-Moll wird ernst genommen, der drive dieser Musik deutet auf etwas hin, was in Worten nicht ausgedrückt werden kann. Die Musik ist alles, was der Fall ist – und worüber man nicht reden kann, darüber muss man spielen.
Mit einem Wort: Mozarts Wessel-Deutungen zu lauschen, ist eine Sache größter Spannung und nicht abreißender Stringenz. Doch ist die Kunst des Interpreten eine paradoxe: Er hält die Affekte zusammen, indem er sie, nicht allein in seinen biographischen Conferencen, analysiert. Er spielt also das „Lärm und Getös“ der C-Du-Sonate KV 309 – und vergisst nicht die Vortragsbezeichnung „con spirito“. Er zeichnet im Andante un poco adagio ein „Charakterbild“ einer offensichtlich charmanten und charmierenden Klavierspielerin, der Rosa Cannabich – und verzichtet immer und stets auf jeglichen Kitsch. Seine Akzente sind manchmal betont kurz, verweigern sich irgendeiner traditionellen Gefühligkeit (Wessel ist als Interpret ein Selbstdenker) – und halten den Hörer doch jeden Augenblick in Spannung.
„Mozart, der reisende Wirbelwind“, so heißt das ganze Programm, das aus zwei Stücken des frühen Londoner Skizzenbuchs und aus den drei Sonaten KV 309, 310 und 311 besteht. Das ist sinnvoll und schlüssig, nicht allein aus zeitgeschichtlichen Gründen. Indem Wessel an den chronologisch ersten beiden Sonaten KV 309 und 311 die Mannheimer Schule der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts erläutert, dem sich Mozart mit Gewinn näherte, spielt er einen Mannheimer (Mozart)-Stil heraus, der frei von aller Äußerlichkeit ist. Die dritte Sonate, KV 310, deren Manuskript sich übrigens nach dem zweiten Weltkrieg im betrügerischen Handel des sog. „Bayreuther Antiquariats“ befand (das gute Stück wurde aus der Berliner Staatsbibliothek geklaut und in die USA verkauft, wo es sich heute noch in öffentlichem Besitz befindet) – diese bedeutende Sonate ist nicht allein deshalb außergewöhnlich, weil es sich um die erste Mollsonate W.A. Mozarts handelt. Wessel sagt, dass der erste Satz, als Reflex auf das Sterben der Mutter Mozart, „großflächig“ sei, doch spielt er den Furor durchaus gestaltet. Da Wessel lange, ja sehr lange über ein Stück nachzudenken pflegt, bevor er es öffentlich spielt, handelt es sich um eine künstlerische „Großflächigkeit“. Wessel kann gar nicht anders, als, frei von jeglicher improvisatorischen Verlockung, in Mozarts Wut, mag er sie in seiner Musik fixiert haben oder nicht, eine Form zu entdecken. Also vernimmt man irgendwann einmal einen Trommelwirbel, den Trommelwirbel eines Trauerkondukts. Hat man ihn vorher schon einmal so deutlich gehört?
Wie gesagt: Anderswo pflegt’s eher rokokohaft zu klingeln.
Im Andante cantabile con espressione hören wir tatsächlich eine Finsternis, wie sie in Mozarts Klavierwerk selten begegnet, und der Schlusssatz, ein Presto, hält genau die Waage zwischen Schnelligkeit und Gehetztheit. Der Mozart-Biograph Alfred Einstein nannte es „schattenhaft“, unter Wessels Händen klingt’s genau so. Auch hier wird kein Akzent verschmiert, keine Anweisung ignoriert. Man höre sich einmal, die Noten vor Augen, zum Vergleich die Mozart-Interpretationen „bekannter“ Klavierspieler an… Schließlich kommt, als glückliche Zugabe, das Fragment des b-Moll-Sonatensatzes KV 400, der einst vom Abbé Stadler zu Ende geschrieben wurde. Wessel ergänzte sich selbst den Satz – und fand zu einem glücklichen Finale. Man muss es authentisch nennen, auch wenn Authentizität in der Interpretation musikalischer Werke eine wackelige Angelegenheit ist – eine wackelige, aber keine unmögliche. Man lese nur einmal in Wessels „Die Kunst des Übens“, also der Theorie zur Praxis, die Kapitel über Mozarts f-Moll-Fantasie. Was ist (Klavier-)Kunst? Die Abwesenheit jeglicher Banalität. Mozart lebt also – auch in Bayreuth.
Frank Piontek, 19. März 2025
Michael Wessel
Mozart, der reisende Wirbelwind
Mozartgesellschaft Bayreuth in Steingraebers Kammermusiksaal
18. März 2025