Buchkritik: „Köchelverzeichnis – Neuausgabe 2024“ (zweite Besprechung)

Als müsst’s so sein, wurde ganz kurz vor der öffentlichen Präsentation des neuen Köchel-Verzeichnisses ein neuentdecktes Werk Wolfgang Amadé Mozarts quasi uraufgeführt: sinnigerweise in der Leipziger Oper vor einer Opernaufführung. Im Opus magnum, das nun herauskam, trägt es die Nummer KV 648, womit die Caßation aus dem C zu den kanonischen Werken des Komponisten gezählt werden kann. Andere jüngere „Entdeckungen“, die mit großem Bohei verkündet und eingespielt wurden, haben es dagegen nur in den Anhang geschafft. Unter der Nummer A 64, also unter all jenen Werken, die Mozart mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bearbeitet hat, findet sich nun auch das Duett Nun, liebes Weibchen, ziehst mit mir. Komponiert wurde es – und als solches wurde es in den letzten Jahren auch populär – für das Singspiel Der Stein der Weisen oder Die Zauberinsel, ein Bühnenwerk für das Freihaustheater, in dem ein Jahr später auch Die Zauberflöte uraufgeführt werden sollte. Kenner dieses Werks, das seit etwa 25 Jahren wieder bekannt ist, haben den Titel bereits im „alten“ Köchel-Verzeichnis entdecken können, wo es unter der Nummer 592a katalogisiert wurde. Nun also ist es in den Bereich der „nur“ von Mozart traktierten Werke geraten; dafür entschädigt die neue KV-Nummer 714 zur Genüge, denn hier werden gleich zwei Nummern aus dem Stein der Weisen unter jene Werke subsumiert, die, wenn auch von „zweifelhafter Echtheit“, nach den Forschungen und Mutmaßungen der Herausgeber von ihm geschrieben worden sein könnten. Doch selbst jene Stücke, die in den Anhängen A und C des Verzeichnisses erscheinen, die also entweder „nur“ von Mozart bearbeitet wurden (wie das noch nicht lange bekannte Klavierstück A 66) oder in keinem Fall von seinen Händen stammen, sind alle Aufmerksamkeit wert. Denn mit ihm erhaschen wir 1. einen intensiven Blick auf das, was Mozart aus den verschiedensten Gründen schrieb und/oder abschrieb, wenn er nicht gerade eigene Werke komponierte, und 2. lernen wir mit dem viele Dutzend Nummern umfassenden C-Verzeichnis jener Werke, die Mozart irgendwann untergeschoben wurden, viele Zeitgenossen kennen, die meist im Windschatten Mozarts segelten. Schließlich ist ja auch Josef Myslivečeks Oratorium Abramo ed Isacco ein schönes Stück (aber das wussten die Auswerter des alten Köchel sicher schon vorher).

In diesem Sinn bietet der neue Köchel auch für den Benutzer, der sich „nur“ für die Bühnenwerke Mozarts und seiner Zeitgenossen interessiert, gegenüber den Informationen, die die 60 Jahre alte 6., damals neubearbeitete Auflage des Köchelverzeichnis bietet, einen Mehrwert, der kaum zu überschätzen ist – nicht einmal in Hinblick auf den Abgleich mit den Forschungsergebnissen, die in der NMA, also der abgeschlossenen Neuen Mozart-Ausgabe, als letzter Stand der Forschung veröffentlicht wurden (obwohl man, soweit es die letzterschienenen Bände der Notenausgaben betrifft, die allerneuesten Funde auswerten konnte). Konkret: Die „Neuausgabe“ des Köchel, also das Köchelverzeichnis 2024, wie man es nennen sollte, zieht auch für den Opern- und Ballettkomponisten Schlüsse, die man nur deshalb zu ziehen vermochte, weil man für den neuen Katalog die aktuelle Forschungsliteratur und die originalen Materialien studiert hat. Dies gilt ausnahmslos für jedes der 22 Mozartschen Bühnenwerke, wenn man, wie man’s hier tut, dem Ballett des Idomeneo eine eigene Nummer gibt und die Grabmusik KV 42 berücksichtigt, die man auch szenisch bringen könnte. Die imaginären (wie das „Duodrama“, also die als Melodram konzipierte Semiramis KV 315e), über die Mozart wenigstens einmal laut nachdachte, erhielten gleichfalls eine eigene Nummer. Der unmittelbare Vergleich mit der letzten Bearbeitung des Köchel-Verzeichnisses bringt Klarheit in manch scheinbar diffusen Befund, korrigiert freilich auch gelegentlich stillschweigend frühere Bemühungen um Zuordnungen, die sich als spekulativ erwiesen. So wird eine 28 Takte umfassende, fragmentarische Aufzeichnung einer vermutlich für einen Bass geschriebenen Arie nun unter der neuen KV-Nummer 685 gefunden, ohne dass auf den Plan eines deutschsprachigen Singspiels nach Goldonis Der Diener zweier Herren KV 416a Bezug genommen werden muss – von der Vermutung Alfred Einsteins abgesehen, der ein anderes Fragment einer Opernnummer in den Zusammenhang dieser „teutschen Oper“ einordnete. Man kann dieses Stück nun unter der Nummer Anh. G 46, verzeichnet als „Kadenz für eine Arie in D für Sopran und Orchester unbekannter Herkunft“, entdecken. Nebenbei: Hat man noch im 6. Köchel die 32 Takte unter drei Nummern gefunden, so hat man nun die Zuordnung zu einem Skizzenblatt, auch die Datierung auf 1783 bis Januar 1785 festlegen können. Letzteres war nur möglich, weil inzwischen die Wasserzeichen-(Tyson), Kopisten-(Edge) und Skizzen-(Konrad) Forschung für haltbare Korrekturen, Neuzuordnungen und sichere Daten sorgte, an die in den 60er Jahren noch nicht zu denken war. Der neue Köchel profitiert nun in einer Weise an den Eruditionen, zumal der mit Papiersorten, Abschreibern und Entwürfen befassten Wissenschaftler, die Wesentliches zur Aufhellung der Geschichte(n) des Wiener (und des Prager, Berliner, Dresdner…) Musikwesens zur Mozart-Zeit beitrugen.

Doch der Reihe nach: Was nach dem Katalog von 1964 unmittelbar neu bzw. neu eingeordnet wurde, findet der Leser, der sich die Werke und Werkfragmente nach dem Requiem KV 626 anschaut, nun eher unter den Nummern 626b bis 721, wobei nicht weniger als 42 der alten 626b-Nummern zu den Skizzenbuch-Einträgen, den Anhang mit den untergeschobenen Werken oder in die „normalen“ KV-Werke verschoben wurden; man dankt den Herausgebern schon diese Übersichtlichkeit, die sich auch in einer Vereinfachung der Durchnummerierung und dem wichtigen Hilfsmittel einer Konkordanz niederschlug. Unter den Werken, die nach KV 626b folgen, finden sich nicht wenige, die unser Wissen vom Opernkomponisten Mozart vertiefen, wobei auch die verschollenen Konzert-Arien und zweifelhaften Arien aufscheinen. Ob KV 717, die verschollene Arie Se mai senti spirarti sul volto, wirklich in den unmittelbaren Kontext von La clemenza di Tito oder in Giuseppe Scarlattis Tito gehört, muss demnach offen bleiben. Der Hinweis, den die Herausgeber einem Brief Constanze Mozarts entnahmen, ist indes interessant genug, um zu Vermutungen anzuregen, doch hier wie dort äußern die Autoren des neuen Köchel nur dann eine These, wenn sie 98prozentig belegbar ist. Wer es genau wissen will, bekommt mit den sparsamen, aber genau die richtigen Bücher/Aufsätze/Artikel nennenden Literaturhinweise die beste Weiterleitung: bis zum Erscheinungsjahr 2024.

Rückten einige einst als zumindest halbauthentisch betrachtete Mozartiana jetzt unbarmherzig in einen der Anhänge, so gelangten nun umgekehrt einige wenige Stück in den vorderen Teil. Ist auch die fragmentarische Ballettmusik zu Ascanio in Alba (früher: KV Anh. C 27.06) ein „Werk zweifelhafter Echtheit“, so firmiert sie nun als KV 657, wobei man die Authentizität kritisch diskutiert, die auch bei den neun teilweise damit verbundenen Klavierstücken KV 658 nicht sicher bewiesen werden kann. Unter den „neuen“ Werken entdeckt man jetzt ein Accompagnato-Rezitativ zu einer Arie aus Il re pastore: Campagne amene wurde zwar schon in der Alten Mozart-Ausgabe publiziert, hatte jedoch in der 6. Köchel-Auflage noch keine Ziffer. Damit nahm man eine Angleichung an die Praxis vor, nachkomponierte Opern-Nummern, wie die einschlägig bekannten Arien und Duette aus der Nozze di Figaro oder der Così, als Werke eigenen Ranges einzusortieren, so wie die fragmentarische Scena Giunse il momento alfine – Non tardar, amato bene KV 700, die Mozart für Le nozze di Figaro skizziert hat. Mag dieses Stück noch dem schärfsten Mozartianer bekannt sein, weil er sie aus der Integration in Charles Mackerras’ Gesamtaufnahme des Figaro kennt, so dürfte der Hinweis auf die „Ideen zu einer ernsten Oper“ in einem Skizzenbuch des Jahres 1787 (KV Anh. H 17, Nr. 25 und 26) wohl nur denen ein Begriff sein, die Ulrich Konrads Standardwerk über Mozarts Skizzen, die Edition innerhalb der Neuen Mozart-Ausgabe oder Sidney Newmans Aufsätze zum Skizzenblatt studiert haben. Schon als Hilfsmittel und zur gelegentlichen Korrektur und Ergänzung der NMA tut der neue Köchel also vorzügliche Dienste. So geraten auch eine fragmentarische Ouvertüre in D KV 670, die möglicherweise für ein Salzburger Opernpasticcio des Jahres 1776 bestimmt war, und die neue Pamina-Arie in den Blick, um die Bemühungen Mozarts um die Oper näher zu beleuchten. Eine andere Werk-Ergänzung kommt ebenfalls zu einem eigenen Eintrag: ein verschollener Marsch namens Türkischer Zapfenstreich KV 676 war die Grundlage für das „Vivat Bacchus“-Duett der Entführung aus dem Serail, wird hier jedoch, anders als in der Edition der Oper in der NMA vorgeschlagen, nicht mit dem Marsch Nr. 5a identifiziert.

Interessant für den Opernfreund, der Mozarts gesamtes Werk kennen lernen will, sind auch die fremden Werke, die er „nur“, wie auch immer, bearbeitet oder notiert hat. Darunter befindet sich das fragmentarische Ballett-Pasticcio La gelosie del serraglio KV A 35, das zum Lucio Silla gehört und entgegen der Mitteilung in der NMA keine Skizze, sondern eine „flüchtige, aber in sich vollständige Aufzeichnung eines Balletts“ ist. Obwohl es gut erforscht ist (der jüngste Literaturhinweis fällt in das Jahr 2014) und Mozart später aus der Tanzpastete zitierte, fehlt – das sind so Nebengedanken eines Werkverzeichnislesers – immer noch eine Rekonstruktion und Einspielung des Werks, das immerhin zu einer bedeutenden Mozart-Oper gehört. Woanders edieren sie Goethes Anstreichungen, im Fall Mozarts fehlt immer noch eine wirkliche Gesamtaufnahme seiner Werke, auch wenn sich in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Fragment-Einspielungen sehr viel getan hat. Der neue Köchel sollte, rein praktisch gedacht, auch dazu beitragen, zusammen mit der NMA Desiderata zu beseitigen. In diesem Sinn fallen auch Mozarts Bearbeitungen einer Gavotte aus Glucks Paride ed Elena KV Anh. A 38, einer Arie aus Alceste KV Anh. A 41 und des freilich nicht ganz gesicherten Schlusses der Ouvertüre zu Iphigénie en Aulide auf. Mag auch die Einspielung eines Recueils aus Cannabichs Medée et Jason nicht der verschollenen Ballettmusik KV Anh. A 44 entsprechen, kann der Leser wenigstens vor dem Irrtum bewahrt werden, mit der existierenden Aufnahme eine echte Mozart-Bearbeitung zu besitzen. Dass Mozart auch ein Rezitativ und eine Arie aus Haydns Armida bearbeitete, dass er sich zwei Arien aus P.-A. de Monsignys Opéra comique Rose et Colas und Grétrys Zémire et Azor widmete: all das ist nicht unbekannt, aber im konzentrierten Zusammenhang des Handbuchs gewinnt man einen Blick auch auf die scheinbaren Abseitigkeiten eines Oeuvres, in dem – wie bei Wagner, Bach, Händel… – auch die Transkriptionen und Veränderungen, auch die Kenntnisnahme einstiger Schlager eine wichtige Rolle spielen.

Dass die fünf Notturni mit Gesangstexten von Mozarts Freund Gottfried von Jacquin, die bislang unter den authentischen Mozart-Nummern zu finden waren, nun als KV Anh. A 47 in den Anhang rückten, ist angesichts der Güte der von Mozart hinzugefügten Bläserstimmen verschmerzbar. Im Übrigen merkt man, wenn man sie sich wieder anhört, dass die Verwechslung vieler falscher oder, in diesem Fall, halbechter Mozart-Stücke mit echten Mozart-Werken manchmal nicht ganz unverständlich war, wo der musikalische Zeitgeist und die Imitationskunst in hohem Rang standen. So erklären sich auch viele der Einträge im C-Verzeichnis. Dessen Abteilung 6 – Musik zu Schauspielen, Pantomimen und Balletten – verzeichnet immerhin zwei Nummern: beispielsweise ein Ballett-Divertissement namens Die Rekrutierung oder Die Liebesprobe, das sich als ein Pasticcio nach Stücken aus verschiedensten Mozart-Werken erwies.

Den „normalen“ Opernfreund dürften vor allem jene Informationen interessieren, die die „großen“ Bühnenwerke betreffen. Abgesehen davon, dass jeder Werkartikel, wo’s möglich ist, eine so kurze wie genaue Entstehungs- und/oder Publikationsgeschichte des jeweiligen Stücks, auch eine Übersicht über die handschriftlichen Quellen einschließlich der wichtigsten Abschriften bringt und die maßgeblichen Ausgaben nennt, was bei einem Werkverzeichnis selbstverständlich ist. Dass die Ausgaben innerhalb der Neuen Mozart-Ausgabe nicht durchgehend auf die Autographe zurückgehen, ist ein relevanter Hinweis. Näheres regelt kein Gesetz, sondern ein Blick in den betreffenden Band der NMA – und in die Incipits der verzeichneten Werke, die gelegentlich durch Incipits von Entwürfen oder alternativen Versionen ergänzt werden. In diesem Sinn kann die Neuausgabe auch als richtungsweisendes Handbuch zur angedeuteten Erforschung von Mozarts Arbeitsweise genutzt werden.

Indem die Neuausgabe des Köchel auchdie Literatur der letzten sechs Jahrzehnte verarbeitet hat, werden wir – falls wir nicht vom Fach sind – auf schöne Neuigkeiten gestoßen. Da wurde beim musikdramatischen Opus 1, also der Schuldigkeit des ersten Gebots KV 35, eine Edition des Faksimiles der Partitur verzeichnet, da werden zu den Konzert-Sinfonien, die Mozart auf der Grundlage der Opern-Sinfonien zu Apollo et Hyacinthus KV 40 und Lucio Silla KV 135 schrieb, neueste Literaturhinweise gegeben. Wir erfahren, dass Leopold Mozarts Anteil an der Komposition der Schuldigkeit vielleicht doch größer war als bislang angenommen. In Zusammenhang mit Bastien und Bastienne KV 50 wird die Zuordnung eines nicht vertonten Einlagestücks revidiert. Schwerwiegender ist zumindest für den Goldoni-Freund die Vermutung, dass das Libretto zu La finta semplice KV 51 doch nicht auf ein gleichnamiges Stück des Dichters zurückgeht. Die Nummer 8 des Mitridate KV 87 scheint, so erfahren wir jetzt, von einer Vertonung Francesco Gasparinis abzuhängen, der 16. Satz der Betulia liberata KV 118 von einem Werk Michael Haydns. Für Freunde Portugals und der internationalen Rezeption W. A. Mozarts ist der Hinweis auf eine in Lissabon liegende Abschrift des Ascanio in Alba KV 111 von Bedeutung, die mit der Information in der NMA übereinstimmt, dass das Libretto 1785 noch einmal für eine Geburtstagsaufführung am Hof zu Queluz, also für Dom Pedro III., komponiert worden ist. Natürlich informiert die Neuausgabe auch in Kürze, aber präzis, über die verschiedenen Fassungen einer Oper; nicht allein Don Giovanni, auch die köstliche Finta giardiniera KV 196 kann in zwei authentischen Versionen aufgeführt werden; die zweite Fassung wird jeweils mit einem eigenen Incipit-Verzeichnis berücksichtigt. Auch im Fall von Il re pastore gilt, was in Bezug auf die Einzelstücke des Figaro und der Così gesagt wurde, die eigene KV-Nummern zugeteilt bekamen, weil sie nicht zum kanonischen Bestand der Opern gehören: KV 667, Campagne [nicht „Compagne“, wie das Wort noch in der NMA gelesen wurde] amene, gehört zu Il re pastore wie Dalla sua pace, das nach wie vor die KV-Nummer 540a trägt, obwohl die Arie in vielen Aufführungen des Dramma giocoso wie selbstverständlich gesungen wird, zum Don Giovanni. Wer Genaueres über die gravierenden Änderungen in der Nummer 21 der letzteren Oper erfahren will, wird in Kürze darüber unterrichtet. Im Übrigen spricht sich der neue Köchel gegen die Existenz einer „Wiener Fassung“ des Werks nun begründet und ausdrücklich aus.

Die Informationen zum Ballett Les petits riens KV 299b werden mit relativ neuen Identifizierungen einzelner Nummern zu vorliegenden französischen Arien versehen, was ein helleres Licht auf Mozarts Entlehnungspraxis wirft oder anders: Ob jene Stücke, die in der NMA Mozart aus stilistischen und qualitativen Gründen abgesprochen werden, nicht auch von Mozart geschrieben oder bearbeitet worden sind, muss, so heißt es jetzt im Köchel, „wegen der Kürze der meisten Sätze“ im Vagen verbleiben. Im Fall der kaum gespielten Zaide KV 344 (man müsste dieses fast vollendete Bühnenstück schon allen aufgrund von Zaides Arie Ruhe sanft viel öfter bringen) wird als letzte Basisliteratur ein Aufsatz zu neuen Erkenntnissen in Sachen Entstehung und Datierung aus dem Jahr 2006 genannt, woran man sieht, dass das Mozart-Jahr auch für die Forschung Schönes zutage brachte. Im Fall der spektakulären Schauspielmusik zum Thamos KV 345, zu dessen Einordnungsproblematik im Vorwort einiges allgemein für den neuen Köchel Geltende zu lesen ist, sind die Datierungen von je her klar, aber nun wird der Satz Ihr Kinder des Staubes, entgegen der Angaben in der NMA, nicht als Ersatz für die finale Instrumentalmusik der zweiten Fassung gedeutet. Interessant ist ebenfalls der Hinweis auf den ersten Satz der Sinfonie KV 184 (vormals KV 161a), der in einer um 1800 erstellten Kopenhagener Thamos-Abschrift enthalten ist und vielleicht 1791 bei einer Frankfurter Aufführung der Thamos-Musik als Ouvertüre benutzt wurde (wie einst Bernhard Klee die Schauspielmusik mit dem Sinfoniesatz eingespielt hat). Das sind so spannende „Nebeninformationen“, die zum Kern der zeitgenössischen Mozart-Aufführungspraxis gehören und nicht immer in der Mozart-Ausgabe zu finden sind. Als pars pro toto für weitere rare Stücke kann das Rezitativ und die Arie Wie grausam ist, o Liebe, nicht dein Spiel – Die neugeborne Ros entzückt KV 365a genannt werden. Die Besitzer der ORF-CD mit einigen hoch seltenen und erstmals eingespielten Mozart-Fragmenten sowie die Benutzer von Band X/31/4, der nicht in der digitalisierten Version der NMA zu finden ist, mögen sie kennen, auch diejenigen Opernfreunde, die eine akustisch defizitäre Aufnahme des Stücks auf Youtube entdeckt haben.

Der Eintrag zum Hauptwerk Idomeneo KV 366, das nicht allein durch die umfangreiche Ballettmusik KV 367 in Mozarts Oeuvre etwas ganz Besonderes ist, enthält natürlich nicht nur Erläuterungen bezüglich der komplexen Entstehungsgeschichte etlicher Nummern und der verschiedenen Fassungen, sondern auch den Hinweis auf die verschiedenen Versionen der „Voce“, also des „Orakelspruchs“, der am Ende für die Erlösung sorgt. Man weiß, dass Mozart mehrere Fassungen schrieb, um am Ende eine radikal kurze zu verwenden; relativ neu dürfte die Vermutung sein, dass am Ende der Produktion die Rolle vielleicht nur gesprochen wurde. Johann Baptist Kucharz hat, vermutlich im Prag des Jahres 1792, eine weitere Alternative komponiert. Diese Fassung war Daniel Heartz, dem Kenner und Herausgeber des Werks innerhalb der NMA, zwar bekannt, so dass er sie 1972 publizieren konnte, doch kann die Nummer 28b nun einem anderen Komponisten zugeschrieben werden. Wer Lust hat, sie zu hören, sollte zur Einspielung des Idomeneo durch John Eliot Gardiner greifen – auf solche Einspielungen von interessanten Fassungsalternativen kommt man eben, wenn man das neue Köchelverzeichnis konsultiert.

Undsoweiter undsofort… Wie man sieht, bietet die Neuausgabe des Köchel eine Fülle von Hinweisen, Ergänzungen und Vertiefungen, die der Leser sich ansonsten mehr oder weniger zeitaufwendig aus der Sekundärliteratur herausziehen muss: bis hin zum Figaro, von dem es laut Aussage des neuen Köchel nie  eine „definitive Fassung“ gegeben hat (so viel zur „Werktreue“), bis hin schließlich zur Clemenza di Tito KV 621, bei der nun die bisweilen immer noch geäußerte Spekulation abgewiesen werden kann, dass das Rondo Non più di fiori schon vor dem Beginn der Kompositionsarbeit an der Oper als Konzertstück vorlag. Noch das Verzeichnis Anhang G – Kadenzen, Eingänge und Auszierungen – bietet Opernergänzungen, bevor die H-Abteilung – Studien, Unterrichtsmaterial und sonstige musikalische Aufzeichnungen – zuletzt die letzten unaufgeräumten Restbestände der 6. Auflage des Köchel in eine vernünftige Form und ein praktisches System bringt. Nicht allein, dass man mit Hilfe zumal dieser beiden Großteile nun jenen Werkchen, die man bislang in seinem persönlichen Speicher mit oder ohne KV-Nummern (KV deest wurde in den letzten Jahren zu einer gängigen Kategorie) eingelagert hat, gültige Ziffern zuordnen, damit wesentlich besser in Mozarts Gesamtschaffen einordnen kann. Die Neuausgabe 2024, die in ihrer Struktur schlicht vorbildlich ist, macht nicht zuletzt von Neuem Lust – falls sie je geschlummert haben sollte –, sich in die „kleinen“ und die „großen“ Werke W. A. Mozarts hineinzubegeben, die nun, im Zeichen historischer Gerechtigkeit, in bislang unerreichbar kompakter Darstellung gleichwertig nebeneinander zu stehen scheinen, weil die Werke eines Genies eben nur im Zusammenhang aller wie auch immer überlieferten Opera begriffen werden sollten. Dies schließt die besondere Vorliebe für den Don Giovanni oder Die Zauberflöte nicht aus, macht allerdings auch den Blick auf scheinbar abseitige Fragmente wie einen pantomimisch-musikalischen Faschingsschwank oder eine französische Ballettmusik wieder oder vielleicht gar zum ersten Mal frei: mit allen Hilfsmitteln, die ein Katalog eben zu geben vermag. Was soll ein Werkverzeichnis? Es soll in Kürze über den Werkbestand, über sichere Überlieferungen und gleichzeitig über nichtauthentische Traditionen aufklären. In diesem Sinn ist die Neuausgabe 2024, durchaus im Sinne Mozarts, ein Werk der Aufklärung.

Ein großer Dank also an Neal Zaslaw, der im Auftrag der Internationalen Stiftung Mozarteum die wunderbare Monsterarbeit auf sich nahm, den Köchel auch für den Opernfreund, der an wirklich verlässlichen Grundinformationen über Mozarts inkommensurables Bühnenwerk interessiert ist, gleichsam neu zu erfinden.

Frank Piontek, 28. Oktober 2024


Köchel Verzeichnis
Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von Wolfgang Amadé Mozart
Neuausgabe 2024
Bearbeitet von Neal Zaslaw

1263 Seiten. Gebunden, im Schuber
Breitkopf & Härtel 2024
459 Euro