Bad Wildbad: „Il viaggio a Reims“

Warnende Stahlhelme zur vergnüglichen Friedens- und Feieroper

Der französische König Karl X, der jüngste Bruder des in der Revolution guillotinierten Ludwig XVI, war ein Bewunderer und Förderer Rossinis. Sein Bruder Ludwig XVIII, nach der Niederlage Napoleons wieder eingesetzter Bourbonen-Monarch war 1825 gestorben, Karl bestieg als legitimer Nachfolger den Thron und wollte seine Herrschaft mit einer anachronistischen Königskrönung in Reims beglaubigen lassen. Den Termin hierfür ließ er etwa ein halbes Jahr nach seiner Thronbesteigung anberaumen. Genug Zeit für Rossini, seinem Gönner, Förderer und neuem Dienstherren eine Krönungs- und Huldigungsoper zu schreiben, die sein letztes italienischsprachiges Bühnenwerk und nach längerer Zeit wieder eine komische Oper werden sollte. Ein Jubelwerk wie weiland „La Clemenza di Tito“ von Mozart für die Krönung Kaiser Leopolds zum böhmischen König in Prag?

Das Opernkonzept Rossinis und seines Librettisten Luigi Balocchi 33 Jahre nach Mozart ist aber ein ganz anderes. Il viaggio hat keine Handlung, in welcher ein Herrscher unmittelbar auftritt und Güte , Milde und sogar Weisheit walten lässt, sondern ein fast zeitloses ironisches Gesellschaftstableau, wie es Offenbach später nicht besser schreiben würde. Parodie auf eine internationale Reisegesellschaft, die auf dem Wege zur Krönung Karls in Reims angesichts der Tatsache, dass das gerade keine Pferde verfügbar waren, in einem Badehotel in Plombières-les Bains in Lothringen blockiert ist und nicht weiterreisen kann. Dafür fährt man kurze Zeit später nach Paris, um an den der Krönung dort folgenden Feierlichkeiten teilzunehmen. Aus dem Viaggio a Reims wird also faktisch ein Viaggio a Parigi. Aber erst einmal wird im Hotel zu Ehren des neuen Königs gefeiert. Die Krönung Karls letztlich ist sie nur Vorwand aber nicht Ziel dieser ausgelassenen Feier. Die einaktige Oper spielt an einem Tag in wenig mehr als Echtzeit. Angeblich ist der König bei der Uraufführung in Paris 1825 zugegen gewesen, aber in der zweiten Hälfte der Oper eingeschlafen und hat so gar nicht mitbekommen, dass hier nicht gehuldigt, sondern ironisiert und parodiert wird, und zwar in Musik und Text: die amüsante Befindlichkeitsgeschichte einer knorrig-illustren Reisegesellschaft von Adligen und Offizieren, die von der Wirtin des Gasthofs zur Goldene Lilie auf Trapp gehalten werden. Karl X hätte das ohnehin wenig genutzt; fünf Jahre später wurde er in der Juli-Revolution 1830 vom Thron gefegt. Rossini hatte einen Hauptförderer verloren (und stellte das Opernkomponieren ein).

Annalisa D’Agosto (Madama Cortese); Bruno Praticò (Il Barone di Trombonok)

Erstaunlich ist, dass Rossini viele (Vor?)Urteile über verschiedenen Nationalitäten verarbeitet hat, die auch heute noch bestehen. Jede Regie nimmt das auch dankbar auf und parodiert kräftig mit; so auch die vorliegende Arbeit des Wildbad-Intendanten Jochen Schönleber. Der Deutsche ist dick und trinkt viel, dabei gleichzeitig Musikliebhaber und arbeitet an technologisch fortgeschrittenen Hörnern (R. Wagner tat das später tatsächlich); der Engländer ist unmusikalisch und versteht nichts von Musik; die Französin weint ihrem verloren gegangenen Fummel hinterher und bringt einem geretteten Hut eine Bravourarie. Doch die Schönste ist die Polin – und die bringt gleich einen heißblütigen Spanier und einen Duell-süchtigen Russen gegeneinander auf. Der Franzose macht galant und nachdrücklich gleich mehreren Damen im Stil einer französischen Boulevard-Komödie den Hof. Die Oper ist frei von nationalistischen Tönen; im Gegenteil: sie kann auch als Feier zur Versöhnung in Europa gesehen werden, und das zu einer Zeit, als die Wunden der napoleonischen Kriege noch nicht verheilt waren. Vertreter fast aller Staaten der „Heiligen Allianz“ treffen sich auf der Bühne auf französischem Boden zum Feiern: Adel und Kultur verbinden…

Baurzhan Anderzhanov (Lord Sidney)

Rossinis Gelegenheitsoper, deren Handlungstag sich punktgenau auf den 22.05. 1825 festlegen lässt, hat in Paris nur vier Aufführungen einen Monat nach Karls Krönung erlebt, ehe Rossini sie zurückzog, da sie dann nicht mehr aktuell war. Die Musik wurde bekanntlich überwiegend für seine Oper „Le comte Ory“ zweitverwertet; größere Teile der Handschriften landeten in verschiedensten Händen. 1854 wurde die Oper zum ersten Mal wieder rekonstruiert und gelegentlich der Hochzeit zwischen Kaiser Franz-Joseph und Elisabeth („Sissy“) in Wien als „Reise nach Wien“ wieder aufgeführt. Dann sollte es 100 Jahre dauern, bis sich Musikwissenschaftler und Rossini-Freunde wieder mit der Oper beschäftigten und sie 1984 in Pesaro wieder herausbrachten. Damit setzte eine beispiellose Erfolgsgeschichte eines Werks ein, das praktisch 160 Jahre lang gar nicht mehr aufgeführt worden war. Heute zählt Il Viaggio a Reims zu den Rennern im Rossini-Katalog und das obwohl achtzehn Positionen zu besetzen sind, davon vierzehn Hauptrollen. In Wildbad wurde die nach derzeitigem Kenntnisstand ungekürzte Fassung inklusive der Ballettmusik gegeben.

Guiomar Cantò (Corinna); Artavazd Sargsyan (Il Cavalier Belfiore)

Der Stoff schreit geradezu nach einer modernen Umsetzung. Dass eine Reisegesellschaft heute nicht mit der Kutsche unterwegs ist, lässt die Regisseure die Handlung der Oper sehr oft in die Gegenwart verlegen. Das ist auch gar kein Problem, denn der historische Bezug im Stoff der Oper ist eher nebensächlich. Die Zahl der Verkehrsmittel ist nicht Legion; was verwunderlich, dass Schönlebers Idee, die Reisegesellschaft in einem Flughafen (letztlich vor einem Schild „ XY 123 cancelled“) stranden zu lassen, schon andere vor ihm gehabt haben. Schönleber stellt eine bunte Gesellschaft auf die Bühne, auf die Robert Schrag mit einfachsten Mitteln immer ein geeignetes situationsspezifisches und funktionelles Mobiliar räumt: Gepäckaufgabe, Check-In-Pult, Röntgenportal. Da der Aufenthalt etwas länger dauern wird, kommt auch eine kleine Bar hinzu. Claudia Möbius hat Solisten und Chor mit viele Liebe zum Detail in bunte, fantasiereiche und durchweg verschiedene Kostüme gekleidet. Diese Typen, von Schönleber geschickt bewegt, mischen nun in abwechselnden Arien und Ensembles das Geschehen auf. Solisten und Chor werden gekonnt durchmischt; der Chor ist dabei den verschiedensten Funktionen zugeordnet: vom Gepäckpersonal bis zur Putzfrau und natürlich als ein Hühnerhaufen von undisziplinierten Touristen mit den ulkigsten Typen und ihren Ticks. Die Leiterin des Badehotels und die Hausdame sind resolute Stewardessen, die die Menge in Griff zu bekommen versuchen. Zur Ballettmusik hat der Choreograph Bronislav Rosznos den Chor kurzerhand in einen Bewegungschor umgewandelt. Schönleber setzt dem Personal zum Feiern auch verschiedene Stahlhelme aus der europäischen Geschichte auf und zieht einigen Damen in Nationalfarben geschneiderte Röckchen an. Die haben natürlich historisch nicht immer so friedlich gefeiert.

Chor

Der Mythos der „Unaufführbarkeit der Oper hat sich in über 150 Produktionen seit der Wiederentdeckung erledigt. 18 Rollen sind zu besetzen, davon dreizehn bis vierzehn „Hauptrollen“, die alle gut besetzt werden konnten. In Wildbad benötigte man fünfzehn Solisten. Einige Hauptrollen kommen in einer eigenen Arie zu Worte, alle einmal im Duett oder in den Ensembles und dann natürlich im Kernstück der Oper: dem großen Concertato für 14 Stimmen (hier wegen einer Zweifachbesetzung „nur“ mit dreizehn Stimmen gesungen). Dazwischen liegen Rezitative und Chorszenen. Den meisten Beifall ersang sich sehr virtuos Sofia Mchedlisvili in der Rolle der die modenärrischen Contessa di Folleville (Gräfin von “Irrenstadt“) mit ihrer Bravourrarie „Partir, oh ciel! desio“ über die verlorene Wäsche und den wiedergefundenen Hut. Sie verband Leichtigkeit in den glitzernden Vokalisen mit strahlenden Höhen in lyrischen Emotionen. Und glaubhaft inszeniert: wem hat nicht schon einmal eine Luftfahrtgesellschaft auf einer das Gepäck vermasselt? Baurzhan Anderzhanov verlieh als Lord Sidney in „Ah! perché la conobbi?“ seinem Liebeskummer zu liebenswürdiger Flötenbegleitung mit kraftvollem erst rollgengemäß elegischem, dann auftrumpfendem Bassbariton Ausdruck. In seiner fast atemlosen Katalog-Arie „Medaglie incomparabili“ konnte Lucas Somoza Osterc zwischen den Zungenbrechern nicht genug Druck aufbauen, so dass diese Arie bei aller Stimmeleganz des Baritons etwas leichtgewichtig wirkte. Die Regie lässt zur besseren Verständlichkeit der Anspielungen jeweils die entsprechende Figur an ihm vorbeimarschieren. Anders die mächtige Erscheinung von Bruno Praticò als Baron Trombonok, die er mit stimmgewaltigem Bass beglaubigte.

Lucas Somoza Osterc (Don Profondo); Artavazd Sargsyan (Il Cavalier Belfiore); Sofia Mchedlishvili (Contessa di Folville); Baurzhan Anderzhanov (Lord Sidney); Guiomar Cantò (Corinna); Annalisa D’Agosto (Madama Cortese)

Mit der Rolle der polnischen Marchesa Melibea war die russische Mezzosopranistin Olesya Chuprinova betraut, die auf einer warmen, aber etwas monochromen Grundlage in dieser Rolle zu schönen klaren und gut fokussierten Höhen aufstieg und gute Koloratursicherheit zeigte. Bei den beiden um sie streitenden Herren handelte es sich Don Alvaro, stolzer spanischer Grande, dem der Kroate Matija Meić mit donnernd finsterem Bariton und energisch herausforderndem Spiel Gestalt verlieh und um den russischen General Conte di Libenskof. Für einen russischen General würde man eigentlich einen Bass erwarten, aber es muss bei Rossini auch ein heller Liebhaber-Tenor her, den hier Carlos Cardoso mit klarem und hellem Tenor und sauberen kraftvollen Spitzentönen gestaltete. Seine Versöhnung mit Melibea (Olesya Chuprinova) im Duett „Di che con reo?“) gehörte zu den Höhepunkten des Abends. Nicht zuletzt sei der strahlkräftige, dunklere Tenor von Artavazd Sargsyan in der Rolle de Cavalier Belfiore erwähnt, der gleich um verschiedene Damen wirbt und neben seinem schauspielerischen auch athletisches Geschick beweist und in seinem Auftritt mit der umworbenen Corinna (Guiomar Cantò mit etwas zurückgenommenem klarem, hellem Sopran; sie singt auch liedhaft schön zur Harfe) einen Handstand-Überschlag auf die Bühne legt. Annalisa D’Agosto sang die Madama Cortese, Silvia Aurea De Stefano die Maddalena. Miriam Zubieta wirkte in den beiden Rollen als Delia und als Modestína. Yasushi Watanabe übernahm gleich drei kleinere Rollen: Don Luigino, den Dienstboten Zefirino und den Hausdiener Gelsomino; Cornelius Lewenberg war als Hausmeister Antonio eingesetzt, Raúl Baglietto als Badearzt. Im musikalischen Zentrum des Werks steht das große Concertato, mit das das jubelnde Publikum in die Pause verabschiedet wurde.

Es spielten wieder die Virtuosi Brunenses unter Antonino Fogliani, dem musikalischen Leiter des Festivals. Er pflegte mit dem warm und konzentriert aufspielenden Orchester ein etwas romantisierendes, zuweilen gar pastöses Klangbild, was gar nicht mal unpassend zu der durchweg reichen Instrumentierung der Oper passt, bei der die leicht hingeschriebenen Begleitungsformeln die Ausnahme sind. Vielmehr nimmt sich Rossini auch musikalisch der Internationalität der vorgestellten Gesellschaft an, und das nicht nur bei den abschließenden Vorträgen aus den einzelnen Nationen. Da wird sehr schön italienischer, französischer, spanischer und deutscher Stil musiziert: bei der Ballettmusik bewies Rossini, dass er die deutsche Frühromantik kannte. Insgesamt kam die Partitur mit viel Schwung und Inspiration mit spannenden, aber nicht überzogenen Stretten beim Publikum an. Wenn sich Divergenzen zwischen Bühne und Graben andeuteten, bekam Fogliani jeweils die Beteiligten wieder schnell in die Hand. Der Camerata Bach Chor Posen (Einstudierung: Ania Michalak) brachte wieder prächtige, konzentrierte Einlagen und war an diesem Abend auch schauspielerisch sehr gefordert, was in der Ballettmusik gipfelte.

Zum Schluss gab es Riesenapplaus für alle Beteiligten aus dem ausverkauften Haus nach diesem gelungenen Opernabend.

Manfred Langer, 28.07.2014
Fotos: Patrick Pfeiffer