Hamburg: „Die Trojaner“

besuchte Aufführung 26. September 2015

„Arma virumque cano“ (Kriege besinge ich und den Helden) – diesen Beginn und den Inhalt des Versepos „Aeneis“ von Publius Vergilius Maro (70 bis 19 vor Chr) kannte zu Zeiten mit mehr Lateinunterricht jeder Gymnasiast. Heute hingegen verstehen Jugendliche unter einem „Trojaner“ mehr einen Ausdruck der Computersprache als einen Einwohner des antiken Troja. So ist die Aufführung einer Oper, die die Kenntnis der Aeneis mehr oder weniger voraussetzt, ein ehrgeiziges Wagnis .

Zwei Episoden des Epos inspirierten Hector Berlioz zu einer „grossen Oper in fünf Akten“ nach eigenem Text – eigentlich zwei Opern mit Äneas als Verbindungsperson. Der erste Teil „Die Einnahme von Troja“ (La Prise de Troie)zeigt, wie die leichtgläubigen Trojaner trotz Warnungen der Seherin Kassandra das mit feindlichen Griechen gefüllte Pferd in ihre Stadt holen und dann von diesen besiegt werden. Der zweite Teil „Die Trojaner in Karthago“(Les Troyens à Carthage) zeigt die Liebe zwischen Aeneas und Dido ( Énée et Didon), die pflichtgemässe Abreise des Aeneas nach Italien, um dort Stammvater Roms zu werden, und den Selbstmord der enttäuschten Dido. Erst nach dem Tod von Berlioz fand 1890 in Karlsruhe unter Felix Mottl die vollständige Uraufführung statt.

Nach der Hamburger Erstaufführung im Jahre 1982 (ML Sylvain Cambreling an Stelle von Christoph von Dohnányi – Inszenierung Götz Friedrich) haben die neue Intendanz und der neue GMD Kent Nagano dieses schwierige Werk als ihre erste Opernaufführung ausgewählt. Es paßte insofern gut, da wie Hamburg sowohl Troja als auch Karthago Hafenstädte waren, die ihren Wohlstand dem Handel verdankten. Königin Didos Lob des Welthandels und des Karthagischen Wirtschaftswunders entging demgemäß den Kürzungen. Dieses wurde allerdings konterkariert durch schlammbedeckte Sklaven, die sich gebeugt zu Klängen des „Sklavenballets“- des einzigen übrig gebliebenen Ballets – über die Bühne bewegten. Insgesamt wurde mehr gestrichen als 1982 – damals mehr als vier Stunden Aufführungsdauer. Die jetzige Fassung des französischen Komponisten Dusapin scheint dramaturgisch konsequent, wenn auch z.B. von mehreren Strophen einer Arie nur eine gesungen wurde.

Wie von Regisseur Michael Thalheimer, zu erwarten, war kein Meer zu sehen und auch kein Pferd, das Götz Friedrich 1982 schwarz die ganze Bühne füllend hatte erscheinen lassen. Wenig einfallsreich stellte Olaf Altmann für beide Teile am rechten und linken Bühnenrand jeweils eine riesige bis oben reichende Wand auf, die zur Not im ersten Teil als Festungsmauern, im zweiten als Palastmauern interpretiert werden konnten. Die riesige Rückwand konnte durch Drehen geöffnet werden, vor allem, um durch sie den Chor als geschlossenen Gruppe auftreten zu lassen. Einzig zum grossen Liebesduett zum Ende des 4. Aktes leuchtete eine Art Mond. (Licht Norman Plathe)

Diese Bühne bildete den Rahmen für den blutigen ersten Teil. Kassandra hatte blutige Hände, mit denen sie während des Oktetts die späteren Kriegsopfer markierte. (Dieses Oktett mit Chor und das ähnliche Septett im vierten Akt waren musikalische Höhepunkte!) Hektors Geist war am ganzen Körper mit verkrustetem Blut bedeckt. Als Zeichen der Zerstörung Trojas regneten Mengen Blut die hintere Wand herunter. Diese blutbedeckte Wand war dann auch Hintergrund für Didos Selbstmord im fünften Akt. Weniger hervorgehoben wurde im dritten Akt, wie Dido, die selbst als Flüchtige an Land gekommen war, die um Landungsrecht bittenden flüchtigen Trojaner aufnimmt. („Wer das Leiden kennt kann nicht andere leiden sehen“) Allerdings brachten im Gegensatz zu heutigen Flüchtlingen die Trojaner auch ihren Schatz mit! Bei der Gelegenheit sorgte Aeneas Sohn Askanius (Ascagne) mit Flügeln versehen(„ein Knabe ähnlich Cupido“) für den Beginn der Liebe zwischen Dido und Aeneas. Dies spielte und sang Christina Gansch überzeugend. Das grosse Duett von der „Nacht des Rausches und der Extase“ sangen die Liebenden wie viele andere Einzelauftritte der Aufführung zunächst ganz an den Bühnenrändern – Dido wirft Äneas Gefühlskälte vor – dann fanden sie aber doch zusammen.

Die heutigem Alltag zugehörigen Kostüme von Michaela Barth waren wenig einfallsreich – irgendwelche unterschiedslose Uniformen für Soldaten einschließlich König Priamos, schlecht passende Anzüge für die friedlichen Karthager, Kassandra ganz in weiss, Dido im eleganten Abendkleid.

Durch diese reduzierten Bühnenmittel konnte die musikalische Seite umso stärker in den Vordergrund treten.

Bestens besetzt waren die beiden wichtigen Frauengestalten. Catherine Naglestad beherrschte hochdramatisch den grossen Stimmumfang der Partie der Kassandra von exakt getroffenen Spitzentönen bis zu den extremen Tiefen ihrer beiden Arien. Auch verstand sie, ihrer Stimme neben den dauernden düsteren Prophezeiungen einen weicheren Klang zu verleihen, wenn es um ihre Liebe zu Chorèbe ging (mit grossen Legatobögen aber etwas Schwierigkeiten bei ganz tiefen Tönen Kartal Karagedik) Dagegen ist Didos Partie vielseitiger, da sie von der stolzen Königin über die grosse Liebende zur hasserfüllten Furie und schließlich verzweifelten Selbstmörderin wird. Diese extremen Gefühle wußte Elena Zhidkova darstellerische überragend zu vermitteln, vor allem auch stimmlich mit exakt getroffenen Spitzentönen, lyrischem Legato für die Liebesszenen, sogar mit Koloraturen bei den Ensembles. Für den erkrankten Torsten Kerl sprang Ian Storey als Aeneas ein. Auch er traf martialisch die Spitzentöne, sang p im Liebesduett und steigerte sich in seiner grossen, hier leider auch gekürzten Arie im fünften Akt. Von den zahlreichen weiteren Partien muß Katja Pieweck als Didos Schwester Anna bewundert werden. In ihrem matronenhaft unvorteilhaften Kostüm wußte sie mit blühender Altstimme und grossen Kantilenen zu begeistern. Ihr Duett mit Dido im dritten Akt war ein musikalischer Höhepunkt. Mit mächtigem Bass bis in ganz tiefe Töne überzeugte Petri Lindroos als Didos Minister Narbal. Die beiden populären Tenorarien gelangen belcanto-reif Markus Nykänen als Dichter Iopas mit nur einer Strophe und ganz besonders Nicola Amodio mit dem wunderbaren Weltabschiedslied des Matrosen Hylas ganz ungekürzt.

Aber die Oper heißt „die Trojaner“, so waren Chor und Extrachor in der Einstudierung von Eberhard Friedrich nach etwas wackligem Anfang die stimmlichen Hauptakteure, mächtig klingend in ganz grosser Besetzung, durchhörbar mehrstimmig in kleineren Gruppen, ganz pp „perdendosi“ nach Andromaches Trauerauftritt. Besonderes Lob gebührt dem Damenchor in der Selbstmordszene des zweiten Aktes.

Aufgeführt wird heute die Oper nicht als Nachhilfe für die Vorgeschichte des Römischen Reiches, sondern wegen der melodischen und instrumentalen Raffinesse der Musik. Die zeigten in allerschönsten Farben das Philharmonische Staatsorchester – auch als Bühnenmusik – unter der beschwingten und zur raschen Tempi neigenden Gesamtleitung durch ihren neuen Chefs Kent Nagano. So wurden etwa die Musik zur Begleitung der Trauer Andromaches, zum Auftritt von Hektors‘ Schatten, der „königlichen Jagd“ mit Gewittermusik, die Vorspiele der beiden Teile und Begleitung etwa des Lieds des Hylas auch dank der grossartigen Soli der einzelnen Bläser zu Höhepunkten der Aufführung.

Übertitel gab es in Deutsch und Englisch, Französisch hätte auch dazu gehört, denn man verstand kaum den französischen Text.

Trotzdem gab es im nicht übermässig verkauften Opernhaus viel und herzlichen Beifall nach einzelnen Szenen und der gesamten Aufführung, auch einzelne Bravos, vor allem für die Sänger der Hauptpartien. Schon vor der Aufführung wurde Kent Nagano mit ungewöhnlich langem Beifall begrüßt, was sich nach der Pause und der Aufführung fortsetzte – er scheint schnell die Gunst des Hamburgischen Publikums gewonnen zu haben.

Sigi Brockmann 28. September 2015

Fotos Hans Jörg Michel