Prag: „Kleider machen Leute“, Alexander von Zemlinsky

„Finden Sie das sehr schön??“ Die ältere Frau, Mitglied einer aus Hamburg angereisten Reisegruppe, fragt mit strengem Blick ihre Bekannte, mit der sie gerade den ersten Akt von Zemlinksy Kleider machen Leute gesehen hat. Hat sie ihn auch gehört? Hat sie auf den Schneider, die junge Dame, die Bürger geschaut?

© Serghei Gherciu

Man muss zweifeln, auch wenn klar ist, was gemeint ist: Das, was die Besucherin, die vermutlich eine „opulente“ oder zumindest „idyllische“ Bühnenausstattung erwartet hat, in der Prager Staatsoper sah, war, wenn man nur das Bühnenbild zur Kenntnis nahm, absolut reduziert – aber wie man in diesem Bild gespielt und gesungen hat: das hatte Klasse. Seltsam, dass manche Opernbesucher und -besucherinnen oft nur auf das Äußerliche blicken und die Architektur mit der Inszenierung und der musikalischen Leistung verwechseln, wo doch das Wesentliche klar zutage liegt. Denn Zemlinskys Oper, die, das war sein souveräner Stil, eine seltene „Korrespondenz zwischen Szene, Wort, Orchester, zwischen musikalischer Phrase und dem, was dramaturgisch los ist“, aufweist, wie der Dirigent Gerd Albrecht einmal in Zusammenhang mit dem Geburtstag der Infantin bemerkte – Zemlinskys Oper läuft in der Inszenierung Jetske Mijnssens und im Bühnenbild von Herbert Murauer wie am Schnürchen ab. Statt dem Stoff, den der Musiker zusammen mit dem Librettisten Leo Feld der Novelle Gottfried Kellners abgewann, dem Pseudorealismus auszusetzen, sorgten sie dafür, das Parabelhafte zu betonen, ohne den Spaß an der Typen- und Chrakterkomödie zu verderben. Vor dem weißen Riesenzylinder, zu dessen beiden Seiten sich hohe Türen öffnen, bewegen sich die Akteure auf zwei schmalen, gegenläufigen Drehbühnenläufen – wenn sie sich nicht bewegen, sondern einfrieren (wie der auf dem bürgerlichen Stuhl sitzende Kutscher und sein Mitreisender oder die Gesellschaft, die den Schneider ins Unglück hetzen will, nachdem sie die Gesangsdarbietung des jungen Fräuleins schlafend verpasst hat), hat’s eine besondere Komik: die Komik der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts. Im ehemaligen „Neuen Deutschen Theater“, wo die zweite, überarbeitete und wesentlich verbesserte Fassung 1922 unter der Leitung des Operndirektors und Dirigenten Zemlinsky herauskam, feierte die Wiederauferstehung des eher seltenen Stücks 2023 ihre neueste tschechische Premiere.

© Serghei Gherciu

Die Inszenierung nimmt sich eines Werks an, das nur als Meisterwerk der Tragikomödie bezeichnet werden kann. Sie tut es mit theatralischem Witz, musikalischer Delikatesse und großem sängerischem Einsatz. „Wir haben uns“, sagte die Regisseurin, „ein wenig von der ursprünglichen Geschichte entfernt und sind tiefer gegangen, zur Deutung, dass der Mensch sich selbst akzeptieren sollte, wie er ist, sich nicht besser oder schöner zu machen, indem man sich die Nase operieren lässt oder teurere Kleidung trägt, sich mit aufregender Gesellschaft umgibt oder sich bereitwillig auf Abenteuer einlässt. Dass er sich einfach aufrichtig und zutiefst darüber freuen soll zu erkennen, wer er wirklich ist. Das ist eine sehr bewegende Geschichte, die Zemlinsky in dieser Oper erzählt.“ Ita est!! Höhepunkt des Dramas ist die öffentliche Decouvrierung des unfreiwilligen Hochstaplers, für die der Komponist 1921 eine musikalisch härtere Pantomime schuf; in Prag verzichtet man auf die gesprochenen Teile, inszeniert stattdessen einen Albtraum, in dem die „gute Gesellschaft“ sich als uniformer Haufen von Schneiderseelen entpuppt und die Geliebte zur mit Blumen um sich schlagenden Horrorbraut mutiert. Die Hetzmasse wird zum Schwellkopfmob, die Verfolgung auf der Drehbühne, mit schließlich eingefrorener Gruppe, zur virtuosen Einlage. In der Stadt Franz Kafkas haben Jetske Mijnssens und Herbert Murauer, zusammen mit der Kostümgestalterin Julia Katharina Berndt und dem Choreographen Richard Klein, eine Welt entworfen, die von der scheinbaren Harmlosigkeit der bürgerlichen Gesellschaft zum dunklen Traum eines Außenseiters changiert, wofür man kein Requisitenchaos und keine Nachbauten „netter“ Interieurs, sondern allein singende Schauspieler benötigt, die die notorisch traurige, schliesslich erlöste Komödie im weißen, dann im schwarzen Raum mit Sinn erfüllen.

Am Ende siegt, weil der Schneider plötzlich selbstbewusst und sich „sein“ Nettchen, des Outsiders Herz erkennend, zu ihm bekennt, wie in einem Film der 20er Jahre die Liebe. Mijnssen nimmt, weil alles andere gegen Text und Musik wäre, glücklicherweise die tiefe Zuneigung zwischen den Beiden ernst, ohne sich dem  möglichen Kitsch, den der Text und die liedhafte Melodik hier bereit halten, auszuliefern; ein paar revuehafte Tanzschritte und das neckische Locken der geliebten Frau tun das ihre an leichter, liebenswürdiger Ironie, um der Komödie einen heitere Schluss zu verpassen und die Figuren als Individuen leuchten zu lassen. Im Dreischritt von Lustspiel (Teil 1), Tragödie (Teil 2) und Lösung (Teil 3) aber wird die Dramaturgie erst perfekt; wer den ersten der beiden Akte allzu banal und erst den zweiten dramatisch interessant findet, verkennt die Fallhöhe, die die Sopannung erst garantiert. Die Musik aber ist immer auf der Höhe der Technik und der Inspiration, die nicht allein Zemlinskys Schwager Arnold Schönberg, sondern auch den in Sachen  „Fortschritt“ überkritischen Theodor W. Adorno so begeisterte, dass er lange nach Zemlinskys Tod bekannte, dass Kleider machen Leute „eine von Zemlinskys besten Partituren“ sei, ja: „Zartheit und verschämte Anmut der Musik“ suchten „ihresgleichen“. Sie ist in der Tat, siehe oben, vollkommen.

© Serghei Gherciu

Mit dem Orchester und dem Ensemble der Prager Staatsoper wirkt sie in all ihrer dramatisch-musikalischen Güte. Richard Hein dirigiert das Orchester der Státny Opera, das hörbar Freude hat an Zemlinskys eingängig-kontrastreicher Musik, der das Lyrische wie das Groteske, das Dramatische wie das Tänzerische zu Gebote steht. Die Walzer, bei denen über die Bühne gewalzt wird (schon das ist zauberhaft), gehören zu den Perlen der Partitur und des Abends, bevor die expressionistische Pantomime den Exzess der kafkaesken Situation des Einzelnen gegen (fast) Alle eindrücklich betont. Zuerst aber sollten Joseph Dennis und Jana Sibera genannt werden. Der im Irrgarten des Trugs herumirrende Schneider und sein selbstbewusst-zurückhaltendes Nettchen bilden ein vokales und schauspielerisches Dreamteam; Jana Sibera „kann“ nicht allein die Königin der Nacht, als die ich sie 2018 im Ständetheater hörte, auch die Sopranstrecken der jungen Frau, deren Timbre so gut zum lyrischen Tenor des genau agierenden Partners passt. Der störende Dritte heißt Böhni alias Markus Butter: als Bariton tut er alles Mögliche, um stimmschön und -stark sein Intrigantentum ins Spiel zu bringen. Ivo Hrachovec ist ein erstklassig chargierender Wirt, der Rest des Ensembles teilt sich in die so wichtigen wie in die Gesellschaft eingeschmolzenen Träger der einzelnen Funktionen auf: der Notar, der Stadtschreiber, der Amtsrat, mit einem Wort die „Honoratioren“. Die Regie zeigt sie als eigensüchtige Exemplare, ohne sie zu entindividualisieren: von den plebejisch auftretenden Typen zum rollstuhlfahdenden Amtsrat, hinter dem eine cool rauchende Krankenschwester steht. Im Tabakssextett glänzen Pavel Šving, Jan Maria Hájek, Philippe Castagner und Jan Hnyk, und der Kutscher, der das böse Spiel um den angeblichen polnischen Grafen initiiert, ist David Nykl. Der Chor der Staatsoper trägt unter Adolf Melichar nicht zuletzt Wesentliches zum Gelingen des gelungenen Stücks bei.

„Finden Sie das sehr schön??“ Was für eine merkwürdige Frage. Die Antwort kann schon am Ende des ersten Akts nur „Ja“ lauten. So kamen am Ende denn doch, sinnbildlich gesprochen, die beiden jeweils fragmentierten Goldeinfassungen der beiden Rahmen zusammen, die als Symbole einer abbröckelnden society an der vierten Wand die Bühne vom Zuschauerraum trennten. Schon 1921 hatte man hier den beliebten Operndirektor und -Komponisten gefeiert. Dass Zemlinsky mit einem seiner frühen Hauptwerke nun wieder in Prag reüssieren konnte, ist wichtig – und sehr bewegend.

Frank Piontek, 19. März 2024


Alexander Zemlinsky und Leo Feld
Kleider machen Leute

Staatsoper Prag

Premiere: 24. Februar 2023
Besuchte Aufführung: 16. März 2024

Regie: Jetske Mijnssen
Musikalische Leitung: Richard Hein
Orchester der Staatsoper Prag