Stuttgart: „Der Prinz von Homburg“

Besuchte Aufführung: 29.3.2019 (Premiere: 17.3.2019)

Träumen als Motor für eine Systemänderung

Früher war Hans Werner Henze so etwas wie ein Hauskomponist der Stuttgarter Staatsoper. In regelmäßigen Abständen gingen Werke von ihm über den Spielplan. Nun hat man Henze schon einige Jahrzehnte nicht mehr in der württembergischen Landeshauptstadt erleben können. Umso erfreulicher war es, dass sich die Theaterleitung auf diesen famosen Komponisten besonnen hat und mit Der Prinz von Homburg, für den Ingeborg Bachmann das Libretto verfasst hatte, endlich wieder eine Henze-Oper in sein Programm aufgenommen hat. Dieser war bisher noch nie in Stuttgart zu sehen. Dafür kann man Intendant Victor Schoner dankbar sein. Das war eine Stuttgarter Erstaufführung, die man nicht so schnell wieder vergisst.

Robin Adams (Prinz), Vera-Lotte Böcker (Natalie)

Aus der Taufe gehoben wurde das Werk am 22. 5. 1960 an der Hamburgischen Staatsoper. In Stuttgart kam die revidierte Fassung von 1991 zur Aufführung, die erstmalig am 24.7. 1992 am Münchner Cuvilliés-Theater zu sehen war. Im Gegensatz zur Uraufführung fehlen hier die großen, pompösen Chorszenen. Das ist kein Fehler, dadurch gewinnt die Oper an Eindringlichkeit. Das Ganze beruht auf einem Schauspiel von Heinrich von Kleist. Der berühmte italienische Film- und Opernregisseur Luchino Visconti hatte Henze auf das Stück aufmerksam gemacht, das der Komponist nach anfänglichem Zögern dann auch um so eifriger vertonte. In diesem Zusammenhang spielte auch die damalige Zeit eine große Rolle. Henze hatte den Zweiten Weltkrieg noch aktiv miterlebt und war in den 1950er Jahren nach Italien ausgewandert. Seiner Ansicht nach hatte Nachkriegs-Deutschland seine Identität verloren, deshalb wollte er dort nicht mehr länger leben. Auch Textdichterin Ingeborg Bachmann war aus ähnlichen Gründen nach Italien gegangen. Zwischen ihr und Henze entwickelte sich nicht nur eine tiefe Freundschaft, sondern zudem eine fruchtbare Zusammenarbeit. Dem Komponisten ging es mit diesem Stück um die Entwicklung einer neuen Identität, eine Identität der Freiheit, der Solidarität und des Friedens (vgl. Programmbuch S. 15). Frau Bachmann erteilte mit ihrem Libretto dem bei Kleist stark spürbaren Militarismus Brandenburgs eine strikte Absage. Ihr kam es auf die Aufzeigung eines Freimuts sondergleichen an, den alle Figuren in dem Libretto atmen – eine Luft der Freiheit, die uns heute selbstverständlich erscheint (vgl. Programmbuch S.16). Für sie ist der Prinz kein Held mehr, sondern komplexes Ich und leidende Kreatur in einem (vgl. Programmbuch S.16). Individualismus und Humanismus spielen bei ihr die zentralen Rollen. Darüber hinaus hat sie Kleists Stück in einigen Punkten geschickt abgeändert. Dieses Vorgehen von Henze und Bachmann hat sich bewährt. Die Oper hat dadurch stark an inhaltlicher Stringenz gewonnen.

Stefan Margita (Kurfürst), Robin Adams (Prinz)

Musikalisch hinterließ der Prinz von Homburg einen ganz starken Eindruck. Hier ist Henze ein absolutes Meisterwerk gelungen. Verschiedene Musikstile stehen gleichberechtigt nebeneinander. Henze war ein moderner Komponist. Demgemäß charakterisiert er die militärische Welt Brandenburgs und das Gesetz durch etliche Zwölftonreihen insbesondere der Blechbläser. Die Traumwelt des Prinzen und seine Liebe zu Natalie werden dagegen in äußerst romantisch anmutende, dem Belcanto entlehnte Klangflächen von Holzbläsern und Streichern gehüllt. Hierfür könnte Bellini Pate gestanden haben. Daraus resultierte ein sehr differenzierter und nuancenreicher Klangteppich, den der junge Dirigent Thomas Guggeis zusammen mit dem versiert aufspielenden Staatsorchester Stuttgart sehr eindrucksvoll vor den Ohren des begeisterten Publikums ausbreitete. Teilweise drehte er den Orchesterapparat mächtig auf. Das liegt bei diesem Werk indes in der Natur der Sache. Auf der anderen Seite entlockte er den Musikern bei den lyrischen Traum- und Liebespassagen aber auch wunderbar weiche, getragene und emotionale Klänge, die sich tief einprägten.

Robin Adams (Prinz)

Gelungen war die Inszenierung von Stephan Kimmig, der in Stuttgart zum ersten Mal eine Oper in Szene setzte. Zusammen mit Katja Haß (Bühnenbild) und Anja Rabes (Kostüme) hat er die Handlung in einem zeitgenössischen Rahmen angesiedelt. Die Kostüme verweisen größtenteils in die Gegenwart, enthalten aber beispielsweise auch Zitate aus den 1950er Jahren. Letzteres kann als Anspielung auf die Entstehungszeit des Werkes verstanden werden und ist durchaus berechtigt. Der Bühnenraum erscheint als Projektionsfläche für die Träume des Prinzen. Frau Haß hat einen weiß gekachelten Schlachthof auf die Bühne gestellt, der seine besten Zeiten hinter sich hat. An den Wänden finden sich Rostspuren und das Ganze wirkt etwas marode. In diesem Ambiente wird von den Mitwirkenden eifrig Sport getrieben. Man ergeht sich in Leibesübungen und probiert an der Ballettstange. Auch der Kurfürst beteiligt sich. Alle erscheinen in Sportanzügen, auch die Frauen. Natalie übt sich anscheinend im Boxen, jedenfalls trägt sie Boxhandschuhe. Einen davon ergreift der Prinz im ersten Bild. An die Stelle von militärischem tritt sportlicher Drill, bei dem man auch mal nur Unterwäsche trägt. Und Tanzen gehört zur militärischen Ausbildung. Die bürgerlich gekleideten Soldaten beschmieren sich fast alle mit Blut. Nur der Graf Hollenzollern beteiligt sich nicht an diesem Ritual. Er befindet sich in diesem Augenblick nicht in demselben Kollektiv wie die anderen Beteiligten. Er ist in der Schlacht lieber vorsichtig. Auffällig ist ein Samurai, der fernöstliche Kampftechniken pflegt. Er symbolisiert einen strengen Regeln folgenden ausländischen Kampfsport.

era-Lotte Böcker (Natalie), Robin Adams (Prinz)

In diesem Ambiente ist der Prinz ein Außenseiter. Zu Beginn steht er auf einer riesigen Leiter – ein deutliches Zeichen für seine träumerische Abgehobenheit. Träumen kommt in dieser Oper eine zentrale Bedeutung zu, und auch Kimmig vernachlässigt sie nicht. Nachhaltig stellt er die Frage: Was ist Traum und was Realität? Die Grenzen scheinen fließend zu sein. Wenn im zweiten Akt durch ein Spiegelkabinett, in dem sich der Prinz und Natalie reflektieren, das Ineinanderfließen von Traum und Wirklichkeit aufgezeigt wird, ist das der Höhepunkt der gelungenen Produktion. Auch die gefälligen Projektionen tragen dazu ihren Teil bei. Der Prinz ist mit dem auf Rationalität beruhenden System des Brandenburgischen Staates unzufrieden und sinnt auf dessen Veränderung. Emotionen müssen her. Mit großer Schärfe wirft der Regisseur das Problem auf, inwiefern die Träumereien des Prinzen als Motor für die Wandlung des Systems fungieren können. Das ist der zentrale Punkt seiner Regiearbeit. Intendiert wird die Möglichkeit eines freien Zusammenlebens. Damit begibt sich Kimmig ganz in das Fahrwasser von Ingeborg Bachmann. Die Frage ist aber, ob sich das System verändern kann und ob es überhaupt dazu bereit ist. Das ist zumindest fraglich. Eine Antwort wird nicht gegeben. Eine Änderung des Systems findet schlussendlich nicht statt. Die Suche geht weiter. Am Ende wird hier indes kein Loblied auf den Militarismus gesungen. Der Satz Zum Sieg, in Staub mit allen Feinden Brandenburgs fehlt in dieser Inszenierung. In den Übertiteln prangt dafür der oben bereits erwähnte Satz von Frau Bachmann von der Luft der Freiheit. Dazu erscheinen die Handlungsträger mit Fanschals, auf die in verschiedenen Sprachen Forderungen für die Zukunft aufgeschrieben sind. Empathie, Mitgefühl, Neugierde, Brüderlichkeit, Vision und Toleranz ist da zu lesen. Der wieder ganz seiner Traumwelt anheim gefallene Prinz erscheint in einem T-Shirt mit der Aufschrift Freiheit. Doch vergebens ist alles Trachten: Hier wird lediglich eine Utopie beschworen. Das war alles sehr überzeugend und von Kimmig mit Hilfe einer ausgeprägten Personenregie auch spannend umgesetzt. Zu den Zwischenspielen senkte sich stets der Zwischenvorhang herab. Dadurch erhielten die einzelnen Szenen etwas Sequenzartiges.

Stefan Margita (Kurfürst), Helene Schneiderman (Kurfürstin)

Eine Idealbesetzung für den Prinzen von Homburg war Robin Adams. Was der über einen in jeder Lage gut fokussierten und klangvollen Bariton verfügende Sänger aus dieser extrem schwierigen, hoch gelagerten Rolle machte, war schon außergewöhnlich. Er sang sehr differenziert und nuancenreich und hatte auch darstellerisch alle Sympathien auf seiner Seite. Eine absolute Glanzleistung erbrachte Vera-Lotte Böcker, die voll und ganz in der Rolle der Natalie aufging. Beglückend wirkte schon ihr äußerst intensives, gefühlvolles Spiel. Das war eine resolute Frau, die genau wusste, was sie wollte. Gesanglich mutete sie mit bis in höchste Höhen strahlkräftigem, bestens sitzendem und wandelbarem Sopran ebenfalls phantastisch an. Vor Rauchen auf der Bühne schreckte sie ebenso wenig zurück wie Stefan Margita, der mit nicht gerade vorbildlich im Körper sitzendem Tenor den Kurfürsten sang. Schauspielerisch war er besser. Auch der Graf Hohenzollern von Moritz Kallenberg klang wenig tiefgründig und recht dünn. Eine solide Kurfürstin sang Helene Schneiderman. Ordentlich entledigte sich Michael Ebbecke als Feldmarschall Dörfling seiner Aufgabe. Von dem profund singenden Obrist Kottwitz von Friedemann Röhlig hätte man gerne mehr gehört. Catriona Smith, Anna Werle und Stine Marie Fischer waren angenehm singende Hofdamen, Mingjie Lei, Pawel Konik und Michael Nagl akzeptable Offiziere. Gefällig rundete Johannes Kammler s Wachtmeister das homogene Ensemble ab.

Fazit: Ein herzliches Dankeschön an die Stuttgarter Staatsoper für diese tolle neue Henze-Produktion!

Ludwig Steinbach, 30.3.2019

Die Bilder stammen von Wolf Silveri