Stuttgart: „Salome“, Richard Strauss

Vorstellung am 1. Dezember 2015 (Premiere am 22. November 2015)

Hardrockoper mit Youtube-Bildern

Es ist laut. Sehr laut. Und je länger es dauert, umso lauter kommt es einem vor. Ich kann mich nicht erinnern, den raffiniert gewebten, schimmernden, orientalisch-schwülen Klangteppich von Richard Strauss je so grob, holzschnittartig, dröhnend und geradezu brutal gehört zu haben. Roland Kluttig scheint das Staatsorchester Stuttgart mit einem Vorschlaghammer zu dirigieren. Die Sänger müssen mit Macht dagegen halten. Da können sie musikalisch nicht mehr viel gestalten und müssen zusehen, wie sie akustisch die andere Seite des Orchestergrabens erreichen. Das ist schade. Denn die beiden wichtigsten Partien sind ausgezeichnet besetzt. Simone Schneider, Ensemblemitglied der Oper Stuttgart, bringt eine nahezu ideale Mischung an Stimmklarheit, Höhensicherheit und Expansionsfähigkeit mit. Der große Schlußmonolog der Salome ist dann auch tatsächlich der musikalische Höhepunkt des Abends, nicht zuletzt weil das Orchester sich an entscheidenden Stellen dann doch dynamisch ausnahmsweise etwas zurücknimmt. Das Objekt ihrer pervers-morbiden Begierde, den Propheten Jochanaan, singt Iain Paterson mit machtvollem Baßbariton. Das hätte ein spannendes Duell werden können. Nur leider treffen die beiden auf der Bühne nie aufeinander. Regisseur Kirill Serebrennikov hatte nämlich das, was man beim Regisseurstheater einen „Einfall“ nennt. Er trennt Stimme und Körper des Propheten. Den Körper stellt der junge Schauspieler Yasin El Harrouk dar, und zwar als islamistischen Terroristen. Da darf er mit bösen Blicken um sich werfen und trotzige Haltungen annehmen. Das geht noch an. Was jedoch nicht angeht: Er ruft mitunter parallel zu den gesungenen Prophetenworten arabische Parolen in die Musik hinein, womöglich die Übersetzung des gesungenen Textes (was es nicht besser macht). Damit hat sich der Regisseur meine Sympathie verscherzt. Macht optisch, was ihr wollt, aber verschont die Musik!

In Zeiten des medial omnipräsenten IS-Terrors mag es auf der Hand liegen, bei einem religiösen Eiferer sofort an einen Islamisten zu denken. Weil diese Assoziation aber naheliegt, ist sie wenig originell und überhaupt nicht so provokant, wie es der Regisseur wohl gehofft hatte. Die Drohpredigten des Jochanaan gipfeln ja schließlich in der Textvorlage von Oscar Wilde tatsächlich in Gewaltphantasien gegen das von ihm verachtete Königspaar. Bebildert wird das in Stuttgart auf überdimensionalen Bildschirmen mit Originalaufnahmen von Zerstörungen und Hinrichtungen durch IS-Terroristen. Zuvor waren darauf Überwachungsvideos aus dem Hause Herodes zu sehen. Immer, wenn die Donnerstimme des Propheten anhebt, zucken arabische Schriftzeichen als Bildstörungen über die Monitore. Anscheinend will der Regisseur durch das Kurzschließen eines christlichen Heiligen, den übrigens auch die Muslime als Propheten verehren, mit islamistischem Terror die Ambivalenz jeglicher Religion, den schmalen Grat zwischen Frömmigkeit und Fanatismus aufzeigen. Das ist ja ganz was Neues.

Und hat dieser Prophet nicht Recht? Läßt sich diese Herodias nicht tatsächlich pausenlos und wahllos von Soldaten und Dienern flachlegen? Ist dieser Herodes nicht tatsächlich ein durchgeknallter Despot? Schon. Aber darum geht es in diesem Stück allenfalls am Rande. Weil der Regisseur die Aktualisierung der politischen Komponente aber platt und videoübersättigt in den Mittelpunkt stellt, bleibt die morbide Geschichte der titelgebenden naiv-perversen Kindfrau Salome nahezu unerzählt. Das Programmheft hält völlig zurecht einen Satz Salomes aus dem Schlußmonolog für zentral: „Das Geheimnis der Liebe ist stärker als der Tod.“ Der Regisseur zieht daraus keine szenischen Konsequenzen. Welche Liebe? Da sitzt auf der Stuttgarter Bühne ein Gör im Grufti-Look gelangweilt im Wohnzimmer herum und verlangt recht unvermittelt nach einer Enthauptung. Vermutlich hat sie sich von dem Cartoon-Video der „Happy Tree Friends“ inspirieren lassen, das ebenfalls auf den Monitoren abgespielt wird („Happy Tree Friends“ nennt sich eine Zeichentrickserie, in der naiv gezeichnete, süße Kuscheltiere regelmäßig in absurd-brutaler Weise nach Art eines überdrehten Splatter-Movies zu Tode kommen). Dieses Einspielfilmchen lenkt ebenso wie die vielen Videos realer Gewalt vom Plot der Oper ab. Der Regisseur erzeugt damit einen visuellen Overkill. In einigen Premieren-Kritiken war zu lesen, die Inszenierung sei „konsequent brutal“. Das ist sie mitnichten. Die Brutalität findet über weite Strecken nur in den unablässig abgespielten Videobildern statt, die man einfach aus dem Internet gefischt hat. Dadurch ist immer was los. Die Personenregie auf der Bühne bleibt dagegen recht konventionell und völlig unspektakulär.

Warum die Bebilderung der Musik von Richard Strauss immer heikel ist, kann man im Interview mit dem Dirigenten nachlesen, welches im Programmheft abgedruckt ist: „Man findet jedes Wort, jedes verwendete Bild im Orchester wieder.“ Dadurch besteht die Gefahr eines umgekehrten „Mickey-Mousing“, einer quasi-choreographischen Eins-zu-eins-Umsetzung der Musik in Bilder. In diese Gefahr immerhin begibt sich die Regie nicht. Ihr ist die Musik nämlich völlig gleichgültig. Und der Text über weite Strecken anscheinend auch. Besonders deutlich und auch besonders ärgerlich wird dies in der Hinrichtungsszene. Sie findet laut Textbuch nicht auf der Bühne statt. Vielmehr hört man einen inneren Monolog der Salome, die in die Stille hineinlauscht und einzelne Geräusche zuzuordnen versucht. Diese Stelle erzeugt üblicher Weise im Kopfkino eine zum Zerreißen gespannte Thrilleratmosphäre, welche Strauss mit seiner Musik kongenial steigert. In Stuttgart nun fällt das Kopfkino aus. Man sieht alles: Die Hinrichtung des Jochanaan wird live auf den Videomonitoren übertragen. Daß die Prinzessin Salome trotzdem noch wortreich darüber spekuliert, was da wohl gerade geschieht, ist absurd. Und der wahre Horror, den die Phantasie im Kopf des Hörers konstruieren sollte, weicht dem plakativen und durch vorheriges Einwickeln in schwarze Folie sehr umständlich zur Schau gestellten Kopfabschneiden vor laufender Kamera. Wenn Salome dann das abgeschlagene Haupt unmittelbar anspricht, unterläuft szenisch die nächste grobe Unachtsamkeit. Der Kopf des Getöteten erscheint riesenhaft vergrößert – wo wohl? – auf dem Videomonitor. Der Blick dringt starr durch halbgeöffnete (!) Augen. Dazu singt Salome aber: „Deine Augen sind jetzt geschlossen. Warum sind sie geschlossen? Öffne doch deine Augen! Erhebe deine Lider, Jochanaan!“ Und wird dabei fortwährend von den Videoaugen angestarrt. Soviel Ignoranz gegenüber dem Text mag man kaum fassen.

Noch ein Wort zu den Sängern des Königspaares. Matthias Klink ist als Herodes besetzt. Er singt in dieser Spielzeit auch den Max im Freischütz. Endlich ein Sänger, so hofft man, der im vollen Saft steht, der singt anstatt zu markieren. Und dann ist die Enttäuschung umso größer, daß da doch wieder einer bloß deklamiert, chargiert, Tonhöhen verschmiert und oft auch nicht viel anders klingt, als die sonst in dieser Rolle besetzten „Charaktertenöre“, die am Ende einer Karriere die Brüchigkeit ihrer Stimmreste als gewollte Karikatur verkaufen. Überzeugen kann dagegen Claudia Mahnke in der Rolle der Herodias. Sie bändigt ihren üppigen Mezzosopran zu kalt verströmender Glut und gehört auch darstellerisch zu den Aktivposten dieser Produktion.

Fazit: Wer es laut und brutal mag, wird mit dieser Hardrock-Version gut bedient. Wer aber die dekadent-intelligente Textvorlage von Oscar Wilde und ihre raffinierte musikalische Umsetzung durch Richard Strauss schätzt, wird sich im falschen Film wähnen – und sollte den Zuschauerraum nicht ohne Gehörschutz betreten.

Michael Demel, 2. Dezember 2015