Stuttgart: „Sancta“, Paul Hindemith u. a.

© Nicole Marianna Wytyczak

Eine Co-Produktion mit dem Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin, den Wiener Festwochen und der Volksbühne Berlin stellt die Neuproduktion von Sancta an der Staatsoper Stuttgart dar. Bei dieser rundum beachtlichen Aufführung, die an Fronleichnam dieses Jahres in Schwerin erfolgreich aus der Taufe gehoben wurde und nun auch in Stuttgart zu sehen war, handelt es sich um die erste Opernperformance der bekannten Wiener Choreographin Florentina Holzinger. Im Vorfeld der Stuttgarter Premiere nicht unumstritten, gestaltete sich die Produktion zu einem regelrechten Paukenschlag, der sicher einmal in die Annalen der Staatsoper Stuttgart eingehen wird. Wie zuvor schon in Schwerin und Wien blieb ein Theaterskandal auch in Stuttgart aus. Das Gegenteil war der Fall: Die Besucher der hier zu besprechenden, ausverkauften zweiten Aufführung waren von dem Gesehenen sehr angetan und sparten am Ende nicht mit frenetischem  Applaus – genau wie nach Auskunft des Stuttgarter Dramaturgen Miron Hakenbeck einen Tag zuvor das Premierenpublikum. Das war nur zu berechtigt. Florentine Holzinger hat in Zusammenarbeit mit Nikola Knezevic (Bühnenbild und Kostüme) sowie ihrem sehr engagierten Team ausgezeichnete Arbeit geleistet.

Den Anfang bildete Paul Hindemiths lediglich 25 Minuten langer Einakter Sancta Susanna. Diese beachtliche Kurzoper sollte ursprünglich im Jahre 1921 in Stuttgart uraufgeführt werden. Auf Intervention des damaligen Dirigenten, der von dem nach seiner Meinung blasphemischen Werk alles andere als angetan war, wurde die Uraufführung an der Württembergischen Staatsoper jedoch abgesagt und ein Jahr später in Frankfurt am Main nachgeholt. Als Vorlage diente Hindemith August Stramms Ein Gesang der Mainacht. Stramm verfasste auch das Libretto zu Sancta Susanna.

© Nicole Marianna Wytyczak

Die Handlung von Hindemiths und Stramms Oper ist schnell erzählt: In einer lauen Mainacht begeben sich die beiden Nonnen Susanna und Klementia zum Altar. Klementia erzählt die Geschichte der Nonne Beata, die sich vor langer Zeit versündigte, indem sie gänzlich unbekleidet zu dem gekreuzigten Christus hinaufstieg, ihn umarmte und küsste. Als Konsequenz dieser Tat wurden die Lenden von Jesus verhüllt, die ewige Kerze in Brand gesetzt und Beata lebend eingemauert. Diese Geschichte macht auf Susanna einen nachhaltigen Eindruck. Sie tut es ihrer Vorgängerin gleich und gibt sich, beflügelt durch ein lesbisches Paar im Hintergrund,  dem Gekreuzigten hin. Als Folge wird sie von den übrigen Nonnen mit dem Bann belegt.

Bereits die Realisierung dieser kurzen Oper ist Frau Holzinger, die auch für die Regie verantwortlich zeigte, ausgesprochen gut gelungen. Auf fast leerer Bühne taucht sie tief in das Seelenleben der beiden Nonnen ein. Bei ihr stellt die Handlung ein Erweckungserlebnis Susannas dar, die um Selbstbefreiung und sexuelle Selbstfindung ringt. Das ewige Licht steht auf einem Kranroboter. Vorne rechts sieht man die Mauer, in der Beata ihr Leben anscheinend noch nicht ausgehaucht hat. Jedenfalls befreit sie sich mit einem überlauten Schrei aus ihrer  Gefangenschaft. Im Hintergrund befindet sich eine Kletterwand, auf der sich das lesbische Paar unbekleidet mit sexuellen Spielchen vergnügt. Am Ende entkleidet sich Susanna völlig und steht längere Zeit splitternackt auf der Bühne, die sie schließlich verlässt. Für ihren Mut, sich derartig nackt zu präsentieren, ist der Sängerin Caroline Melzer großes Lob auszusprechen. Sie stürzte sich sehr intensiv in ihre Rolle, die sie nicht nur hervorragend spielte, sondern mit klarem lyrischem Sopran auch angenehm sang. Demgegenüber fiel Andrea Baker als etwas vergrübelt klingende Klementia ab. Die alte Nonne gab solide Emma Rothmann.

In musikalischer Hinsicht wurde der gelungene Abend nicht nur von Hindemith geprägt. So vernahm man außerdem Musik von Bach, Gounod und Rachmaninow. Cole Porter war ebenfalls zu vernehmen. Einiges Neues steuerte die zeitgenössische Komponistin Johanna Doderer bei. Insgesamt entstand ein interessantes Gemisch aus Opernmusik, Musical, Filmmusik, Techno, Pop und Heavy Metal, das bei der intensiv und ausdrucksstark dirigierenden Marit Strindlund in besten Händen war. Sowohl den klassischen Musikelementen als auch den der U-Musik entstammenden Passagen nahm sie sich beherzt an. Das gut disponierte Staatsorchester Stuttgart setzte ihre Intentionen konzentriert und klangschön um. Dabei ging es im Orchestergraben zeitweilig sehr laut zu. Das lag indes an dem jeweiligen Stück.

© Nicole Marianna Wytyczak

Den Großteil der Produktion bildet eine katholische Messe, in der es in gleicher Weise um Entgrenzung und sexuelle Befreiung geht wie vorher in Sancta Susanna. Hier wartet Frau Holzinger vom Kyrie bis zum Sanctus mit so manchen Effekten der besonderen Art auf. Gekonnt setzt sie der Dämonisierung Susannas die Frage entgegen, aus welchem Grund die weibliche Sexualität in der katholischen Kirche derart verrufen ist. Die Antwort darauf zieht sich durch den gesamten weiteren Abend, der von eindrucksvollen, oft äußerst krassen Bildern geprägt wird. Als Hauptmittel dient Florentina Holzinger hier die gänzliche Nacktheit ihres durchweg weiblichen Teams, unter das sich die Choreographin und Regisseurin sogar selbst mischte und sich am Ende gänzlich unbekleidet der unverhohlenen Begeisterung des Auditoriums erfreuen durfte. Vor diesem hochrangigem Team und seiner gleichfalls sehr mutigen Leiterin muss man in der Tat Hochachtung haben. Das ist nicht jedermanns oder besser gesagt – frau Sache. Die meisten Darstellerinnen sind eigentlich die ganze Zeit über total unbekleidet. Der nackte weibliche Körper ist es, der hier alles zusammenhält. Dies geschieht durch vielerlei Rituale, die auf die Entwicklung eines Gemeinschaftserlebnisses abzielen. Diese starke Betonung der Nacktheit trägt sicher auch dem voyeuristischen Element Rechnung, aber der musiktheatralische Aspekt überwiegt deutlich. Insgesamt ist es Florentina Holzinger daran gelegen, ein kritisches Licht auf die ausgemachte Frauenfeindlichkeit der Katholischen Kirche zu werfen und diese anzuprangern. Der Unterdrückung weiblicher Körperlichkeit erteilt sie eine klare Absage.

© Nicole Marianna Wytyczak

Vieles was Frau Holzinger an diesem gelungenen Abend auf die Bühne brachte, brannte sich dem Gedächtnis nachhaltig ein. Das begann schon mit dem riesigen beweglichen Kreuz und der imposanten Weihrauchschaukel. Der lebendige Klöppel der Glocke wird von einer unbekleideten Frau gebildet. Nackte Nonnen fahren rasant in Rollschuhen über eine Halfpipe. Eine kleinwüchsige Päpstin führt durch die Messe und der E-Zigaretten rauchende, von einer Frau gespielte Jesus wird als ausgemachter Hippie vorgeführt, was einen köstlichen Eindruck hinterließ. So manches, was er – in englischer Sprache – von sich gab, erregte die Lachmuskeln des zahlreich erschienenen Publikums. Das bekannte Bild aus der Sixtinischen Kapelle, auf dem Gott Adam zum Leben erweckt, wird zerstört. Einer auf einer OP-Bahre liegenden Frau wird mit Hilfe eines Skalpells ein kleines Stück Fleisch entfernt, das später gebraten und beim Abendmahl verzehrt wird. Dabei werden auch fleißig Verfehlungen gebeichtet. Hier spielt auch der Inhalt von Caravaggios berühmtem Bild Der ungläubige Thomas eine wichtige Rolle: In dem Fleisch liegt ein abgetrennter Finger. Diese Szene wirkte ziemlich krass. Erheiternd waren dagegen die vielfältigen Theatertricks, die das Ganze in die Nähe einer Zirkusdarbietung rückten, wie beispielsweise die zauberhafte Vermehrung von Weinflaschen durch den weiblichen Heiligen Geist. Ein gelungener Coup de Theatre war zu guter Letzt die Einbeziehung von Zuschauerraum und Publikum in das muntere Treiben – ein treffliches Brecht‘ sches Element. Frau Holzingers Fazit am Schluss lautet schließlich Don’t dream it, be it. Die Besucher erhoben sich an dieser Stelle von ihren Stühlen und wiegten sich zusammen mit den nackten Darstellerinnen auf der Bühne genüsslich im Takt – ein trefflicher Übergang in den überaus beherzten und freundlichen Schlussapplaus.

Fazit: Ein etwas ungewöhnlicher Musiktheaterabend der anderen Art, dessen Besuch sich indes voll gelohnt hat!

Ludwig Steinbach, 7. Oktober 2024


Sancta
Paul Hindemith u. a.

Staatsoper Stuttgart

Stuttgarter Premiere: 5. Oktober 2024
Besuchte Aufführung: 6. Oktober 2024

Performance und Inszenierung: Florentina Holzinger
Musikalische Leitung: Marit Strindlund
Staatsorchester Stuttgart