Warum nur erwacht der bejahrte Kritiker mit einem flauen Gefühl, das sich noch verstärkt, wenn ihm einfällt, dass am heutigen Abend Premiere von Aida in der Berliner Staatsoper ist? Hat er vielleicht einfach so – und damit zu – viele Aufführungen erlebt, dass er das Werk mitsingen, aber auch nur noch schwer ertragen kann? Was haben die vielen Aiden in Verona, oft die aus dem Jahr 1913 stammende und immer wieder aufgenommene, aber auch eine Lego-Version oder eine von La Fura dels Baus, oft mit Maria Chiara in der Titelpartie und Fiorenza Cossotto als Amneris, bei ihm bewirkt? Denkt er noch immer an Aida in den Thermen des Caracalla, wo regelmäßig zu Celeste Aida ein Flugzeug über die Arena hinweg donnerte und der Kampfwagen des Radames erst kurz vor dem Orchestergraben zum Stehen kam? Beschäftigt ihn der Gedanke, wie das Sferisterio in Macerata es schaffte, trotz der unmöglichen Bühnenmaße einen anständigen Triumphmarsch zu inszenieren? Oder denkt er an Daniela Dessì als Aida in Bologna, der Fabio Armiliato im Zuschauerraum entzückt zuhörte? So oft Aida – und auch in Berlin, wo Götz Friedrich an der Deutschen Oper schon in den Achtzigern auf die Leibesfülle von Radames Luciano Pavarotti Rücksicht nehmen musste in einer Produktion, während deren Aufführung der Dirigent Giuseppe Sinopoli Jahre später im Orchestergraben starb.
Inzwischen schmiert in der neuesten Realisierung des Werks Amneris Wurststullen für einen verpeilten Radames. Im Schillertheater zeigte die Staatsoper eine Aida, in der ein erblindeter Kolonialoffizier Radames im Museum das Erwachen und Agieren der Ausstellungsstücke Re und Amneris erlebt, während Aida als Museumsangestellte agiert. So viele Aiden und so viele Lesarten, wobei nicht vergessen werden soll, dass mit der Frankfurter in der Regie von Hans Neuenfels und mit durch die Luft fliegenden Brathühnern bei der Siegesfeier der Angriff des Regietheaters auf das Werk begann.
Nun also an der Staatsoper wie jedes Jahr zum Tag der deutschen Einheit die erste Premiere der Saison: Aida in der Regie von Calixto Bieito, der nicht gerade bekannt für einen schonenden Umgang mit Werken ist, und wie immer am Haus mit einem erlesenen Sängerensemble. Vorab hatte Elina Garanča, befragt nach ihren Erfahrungen mit der Regie, erklärt, irgendwann im Verlauf der Proben sei man als Sänger dann doch überzeugt von den Ideen des Regisseurs.
Die bestanden zuerst einmal im Streichen aller Ballettszenen, deren Musik ohne erkennbare Choreografie erklang, so im zweiten Bild im Tempel, in der Boudoirszene, in der auch viel Musik wegfiel, und natürlich im Triumphzug. Der bestand aus der offensichtlichen Knechtung von sechs kleinen Kindern, während der Chor in Gewänder der Entstehungszeit gekleidet war, Ramfis wie ein katholischer Priester, Amneris in der Gerichtsszene wie aus Zwischen Tüll und Tränen entsprungen oder in Pelz und Glitter zum It-Girl werdend, Aida mal im Glitzerkleid, mal in Jeans, Il Re kunterbunt (Kostüme Ingo Krügler). Reichlich Blut und einiges Erbrochenes war auch zu bestaunen, Maschinengewehre und Revolver belebten fast jede Szene. Auf der kahlen Bühne in Hellgrau, Schwarz oder Weiß wurde viel mit Podesten, schrägen Wänden, natürlich Videofilmen mit kenternden Frachtschiffen, Kampfflugzeugen, Supermärkten, mit Fotosafari und Großwildjagd, deren Ergebnisse zeitweise an der Rückwand hingen, gearbeitet (Bühne Rebecca Ringst). Das war alles Ausdruck purer Willkür, nie aus der Handlung oder gar der Musik erwachsend und fand seinen Höhepunkt an Sinnlosigkeit in erst einem, dann zwei und schließlich achtzehn Clowns mit rotem Haarschopf.
Soll man der Staatsoper dankbar dafür sein, dass sie immer vorzügliche Sänger für ihre Produktionen aufbietet, oder gram dafür, dass man diese Produktionen aussetzt, in denen sie sich unwohl fühlen müssen und ihre vokale Leistung nicht zu optimaler Wirkung bringen können? René Pape wirkte recht stoisch als Ramphis, war auch nicht in den Genuss von Personenregie gekommen oder davor bewahrt worden und setzte seinen balsamischen Bass für den von Amneris Geschmähten ein. Diese hatte im Mezzosopran von Elina Garanča eine wunderschöne, wenn auch für die Partie noch etwas helle und leichte Stimme. Von der anvisierten Azucena sollte sie tunlichst noch Abstand nehmen, als Amneris ist sie bereits mehr als ein Versprechen für die Zukunft. Ebenfalls ausnehmend kostbares Material besitzt Marina Rebeka, die eine schöne Nilarie mit feinen Piani und sicherer Höhe sang, deren Sopran über ein apartes Timbre verfügt, während man sich für Aida eine rundere, wärmere Stimme vorstellen kann. Über Yusif Eyvazovs Stimmfarbe ist schon genug geschrieben worden. Es ist nicht die dankbarste Rolle, aber mit welchem unbedingtem Einsatz er sich mit ihr identifiziert, nötigt Respekt ab. Schließlich gab es nach Bergonzi kaum noch einen Radames mit Morendo zum Schluss von Celeste Aida. Eine angenehme Überraschung war der kraftvolle Bariton von Gabriele Viviani, der einen auch darstellerisch einsatzfreudigen, heldenhaften Amonasro sang. Durchaus neben seinem Basskollegen Pape bestehen konnte der Re von Grigory Shkarupa mit machtvollem Stimmmaterial. Eine feine Sacerdotessa sang Victoria Randem aus dem Hintergrund, Gonzalo Quinchahual machte einen angenehmen vokalen Eindruck als Messaggero.
Trotz nicht immer günstiger Positionierung konnte auch der Chor (Einstudierung Daniel Juris ) wieder überaus Erfreuliches leisten . Wie Sphärenklänge hörte es sich gleich mit den ersten Tönen aus dem Orchestergraben an, von wo aus Nicola Luisotti alle Mitwirkenden sicher und in schöner Ausgewogenheit durch den optisch so enttäuschenden wie akustisch beglückenden Abend führte.
Ingrid Wanja, 3. Oktober 2023
Aida
Giuseppe Verdi
Staatsoper Berlin
Besuchte Premiere am 3. Oktober 2023
Inszenierung: Calixto Bieito
Musikalische Leitung: Nicola Luisotti
Staatskapelle Berlin