Berlin: „Idoménée“

Frankreich im Brennpunkt

Fünfzig Jahre vor Mozarts Dramma per musica wurde in Paris André Campras Tragédie en musique Idoménée uraufgeführt. Der Komponist steht noch immer im Schatten der beiden Großmeister des französischen Barock Lully und Rameau – seinem Vorgänger und Nachfolger. Umso verdienstvoller ist es, dass die Staatsoper das Werk ins Zentrum ihrer diesjährigen Barocktage gerückt hat, zumal diese als Motto Die Musiknation Frankreich zur Zeit des Sonnenkönigs haben. Mit Emmanuelle Haïm stand eine Dirigentin am Pult von Le Concert d’Astrée, die mit dem musikalischen Idiom eng vertraut ist. Sie war der Motor der Berliner Premiere am 5. 11., sorgte für ein faszinierendes Klangbild voller Energie, in welchem der Einsatz des Dudelsacks (Musette) im 4. Akt noch einen zusätzlichen akustischen Reiz einbracht. In den orchestralen Passagen und zahlreichen Tanzszenen wie Sarabande, Menuet, Rigaudon, Passepied und Bourrée war der rhythmische Drive elektrisierend. Zu Recht wurden Haïm und das Orchester am Ende euphorisch bejubelt.

Auch das Inszenierungsteam, die katalanische Künstlergruppe La Fura dels Baus unter Leitung von Álex Ollé, empfing viel Beifall für eine Aufführung mit effektvollen Bildern. Die Künstler sind bekannt für ihre Installationen in Inszenierungen, welche sich freilich nicht selten verselbständigen. Diesmal hielt sich das Kollektiv eng an die Handlung, erzählte diese stringent und illustrativ. Bestimmt wurde die Optik von Emmanuel Carliers Videos, welche vor allem die Sturm- und Unwetterszenen spektakulär ausmalten. Auf Platten aus zerstörtem Plexiglas werden lodernde Flammen, herabstürzende Wasserfluten, ertrinkende Menschen und glitzernde Sterne projiziert.

Im Kontrast dazu stand höfische Pracht, die mittels einer gespiegelten und vervielfachten Montage aus barocken Bilderrahmen, Kassettendecken und Proszeniumseinfassungen veranschaulicht wurde. Im Bühnenbild von Alfons Flores fanden sich zudem Versatzstücke wie ein Bettgestell für Ilione, ein Felsplateau für Neptune und ein goldener Tisch mit weißen Lilien für den Tempel des Meeresgottes. Der Chor von Le Concert d’Astrée (Leitung: Denis Comtet) konnte hier als Priester in weißen Gewändern stimmlich glänzen („Triomphez, remportez“). Für die zehn Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie Dantzaz erdachte Martin Harriague eine lebendige, teils queer überdrehte Choreografie mit exaltiertem Bewegungsvokabular und stupenden Körperskulpturen.

Obwohl die beiden Werke von Campra und Mozart auf unterschiedlichen Libretti fußen, finden sich viele identische Handlungsvorgänge und Leidenschaften. Ein gravierender Unterschied besteht in der Existenz eines Prologue bei Campra, wie dieser üblich war in der Barockoper. Darin disputieren der Gott der Winde, Éole (Yoann Dubruque mit resonantem Bass), und die Göttin der Liebe, Vénus (Eva Zaïcik mit klarem Sopran), über die im Trojanischen Krieg von den Griechen besiegten Trojaner. Idoménées Rückkehr nach Kreta soll durch einen Sturm vereitelt werden. Dessen Gelöbnis, bei seiner Rettung den ersten Menschen zu opfern, der ihm begegnet, ist der Grundkonflikt des Stückes, denn es ist kein anderer als sein Sohn Idamante. Der griechische Bariton Tassis Christoyannis verkörperte den Titelhelden mit starker Präsenz und expressivem Gesang. Der britische Tenor Samuel Boden als jünglingshafter Idamante blieb dagegen darstellerisch blass, wirkte im Spiel geradezu unbeholfen. Aber man hörte eine kultiviert geführte Stimme von exquisitem Timbre, das mit seiner weichen, zärtlichen Struktur die Gefühle für die trojanische Prinzessin Ilione ideal auszudrücken vermochte. Die schweizerisch-belgische Sopranistin Chiara Skerath war das vokale Zentrum der Aufführung. Ihre apart dunkel getönte, füllige Stimme fesselte gleichermaßen mit lyrischem Wohllaut wie dramatischen Ausbrüchen. Mit Idamante hat sie im 4. Akt ein großes Duett, in welchem sich beide Sänger zu harmonischem Klang vereinten und für einen gesanglichen Höhepunkt des Abends sorgten.

Wie bei Mozart ist auch bei Campra ein zweiter Konflikt programmiert, denn Prinzessin Électre, die Tochter Agamemnons, liebt gleichfalls Idamante und setzt alle Mittel ein, um sich gegen die Rivalin Ilione zu behaupten. Die renommierte französische Sopranistin Hélène Carpentier war in attraktiver, Körper betonter weißer Robe (Kostüme: Lluc Castells) ein Mittelpunkt der Szene, reizte auch die Musik der Figur in allen Facetten aus. Furios und bis zum Keifen oder hysterischem Lachen ihre Rachegesänge, bei denen sie die personifizierte Eifersucht herbei ruft (der Bariton Victor Sicard in einem bizarren Travestie-Auftritt in schwarzer Korsage und Strapsen). Aber Carpentier weiß auch Électres Gefühle mit lyrischem Melos („Que mes plaisirs sont doux!“ und „Calmez le vastes mers“) glaubwürdig zu vermitteln. Im letzten Akt, als Idomenée zugunsten seines Sohnes schon auf die Herrschaft verzichtet hat, vermag sie das Geschehen mit einem Vergeltungsschwur noch einmal herumzureißen. Von der Rachegöttin Némésis mit Wahnsinn geschlagen, tötet der König seinen Sohn – ein entscheidender Unterschied zu Mozarts mildem lieto fine. Die Koproduktion mit der Opéra de Lille hat erstmals ein Werk Campras nach Berlin gebracht und ist als große Tat einzustufen.

Der Staatsoper fiel die Ehre zu, im Rahmen ihrer Barocktage das große Jubiläumskonzert aus Anlass des 20jährigen Bestehens von Le Concert d’Astrée auszurichten (8. 11. 2021). Natürlich stand auch hier Emmanuelle Haïm am Pult des Orchesters, mit dem sie seit Jahren eng verbunden ist. Sie bestritt den ersten Teil des Programms mit einem ausgedehnten Rameau-Block, beginnend mit pompösem Bläserglanz bei der Ouvertüre zu Naïs. Im „Bruit de guerre“ aus Dardanus beeindruckte dagegen der furiose Kriegslärm. Den ersten solistischen Beitrag bot Matthias Vidal (für Cyrille Dubois) mit der Arie des Titelhelden („Lieux funestes“) aus dieser Oper – expressiv vorgetragen und mit staunenswerten messa di voce-Effekten geschmückt. Effektvolle Donnerschläge und aufgewühlte Orchesterwogen leiteten die Arie der Emilie, „La nuit couvre les cieux“, aus Les Indes galantes ein. Die Stimme der Sopranistin Emmanuelle de Negri ertönte in schönem Fluss, machtvoll kontrastierten die Choreinwürfe (Leitung: Denis Comtet). Mit Sandrine Piau folgte eine weitere und international renommierte Sopranistin. Die Arie der Phani, „Viens, hymen“, aus demselben Werk gestaltete sie als innigen Hymnus mit leuchtender Stimme.

Der Bassist Laurent Naouri, auch er ein gestandener Interpret des französischen Barockrepertoires, ließ in seinem Vortag von Thésées Arie „Puissant maître des flots“ aus Hippolyte et Aricie zwar engagierten Einsatz nicht vermissen, irritierte aber mit dumpfem, teils verquollenem Klang. Tassis Christoyannis, Titelheld der Idomenée-Produktion, erinnerte mit der Interpretation von dessen Arie „O Neptune, reçoy nos voeux“ noch einmal an seine glänzende Leistung in der Opernpremiere. Zum Abschluss des ersten Programmteils übernahm Simon Rattle die musikalische Leitung und bot mit einer Suite aus Les Boréades lustvolles Musizieren mit ausgereizten dynamischen Effekten und einem rasanten Schluss bei den Contredanses vives.

Der zweite Teil des Konzertes widmete sich Werken des englischen und italienischen Barock und wurde eingeleitet mit Dido’s Lament aus Purcells Dido and Aeneas. Marie-Claude Chappuis überzeugte mit schlank geführtem Mezzo und reizvollen Tönen in der tiefen Lage. Sensationell war der Auftritt des amerikanischen Tenors Michael Spyres, der in Ausschnitten aus Händels Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno seinen sängerischen Ausnahmestatus eindrucksvoll bestätigte. In „Urne voi“ faszinierte die geradezu artistische Balance zwischen den Registern, in „È ben folle quel nocchier“ die Koloraturbravour. Ehrenwert war Lea Desandres Versuch, die Arie des Vagaus, „Armate face et anguibus“, aus Vivaldis Oratorium Juditha triumphans zu stemmen. Sie ging die stürmische Arie auch mit vehementer Attacke an und brillierte mit virtuosen Koloraturrouladen, aber die Stimme war im Volumen und dem dramatische Vermögen doch unterbelichtet. Noch zweifelhafter geriet der Vortrag von Nathalie Dessay, die ihre Gesangskarriere vor acht Jahren beendet hatte und nun noch einmal auf das Podium zurückkehrte, um sich an Alcinas „Ombre pallide“ zu versuchen. Sie hatte die Titelrolle in dieser Oper Händels nie auf der Bühne gesungen, war stets mit der Koloraturpartie der Morgana besetzt (wie in Robert Carsens grandioser Inszenierung an der Pariser Opéra). Nun offenbarte sie als Titelheldin Defizite in der tiefen Lage, unschöne Verfärbungen und schmerzend schrillen Klang in der Höhe.

Für Überraschungen sorgten einige hierzulande weniger bekannte Sänger wie der Bassist Andrea Mastroni, der als Polifemo in Händels Aci, Galatea e Polifemo mit stupenden Tönen in der Extremtiefe sowie phänomenalen Ausflügen in das Kopfregister erstaunte. Auch der Countertenor Carlo Vistoli gab mit der Arie des Tamerlano, „A dispetto“, eine glänzende Visitenkarte ab und der amerikanische Bariton Jarrett Ott trumpfte autoritär mit Argantes „Sibilar gli angui d’Aletto“ aus Rinaldo auf. Von Trompetengeschmetter eingeleitet, konnte der Sänger gleichermaßen mit dramatischem Aplomb wie viriler Energie punkten. Reizend jubilierten Sandrine Piau und Lea Desandre im Schlussduett „Bramo aver mille vite“ aus Ariodante und mit der Arie der Schönheit, „Tu del ciel ministro eletto“, aus dem Trionfo sorgte die Sopranistin mit leuchtender Stimme für einen innigen Abgesang. Mit Ovationen dankte das Publikum in der Staatsoper für einen Abend von Ausnahmerang, würdig dem Jubiläum des Klangkörpers. Am Ende vereinten sich alle Solisten und der Chor von Le Concert d’Astrée zum „Hallelujah!“ aus Händels Messiah und setzten damit einen erhabenen Schlusspunkt.

Im attraktiven, auf das Thema Frankreich fokussierten Konzertprogramm der Barocktage war auch der Auftritt des katalanischen Gambisten und Dirigenten Jordi Savall mit dem von ihm 1989 gegründeten Orchester Le Concert des Nations am 6. 11. 2021 im Pierre Boulez Saal ein Höhepunkt. Das Programm war eine Hommage an den Regisseur Alain Corneau und den Romancier Pascal Quignard, die 1991 den Historienfilm Tous les matins du monde schufen, welcher sich dem heute nahezu unbekannten Musiker Monsieur de Sainte-Colombe d Ä. widmete. Savall hatte damals die Musik für den Film zusammengestellt und mit seinem Ensemble auch auf CD eingespielt. Nun brachte er Teile daraus im Konzert zu Gehör, beginnend mit Auszügen aus Lullys Schauspielmusik zu Le Bourgeois gentilhomme als munterem Auftakt von betont tänzerischem Charakter. Von Marin Marais, einem Schüler von Sainte-Colombe und meisterhaftem Gambisten, gab es mehrere Kostproben – so die Pièces de Viole aus seinen Livres. Da erstaunte und begeisterte, wie Savall mit seinem Instrument in den „Muzettes I & II“ den Klang des Dudelsacks zu imitieren wusste, wie er in „La Sautillante“ den hüpfenden Duktus der Komposition traf. In den „Couplets de folies d’Espagne“ aus dem Deuxième Livre hörte man das bekannte follia-Thema mit seinen zahlreichen Variationen, das sich zu mitreißendem Rhythmus steigerte und in dem Savall mit enormer Bravour überwältigte.

Werke von Couperin und Sainte-Colombe standen für die Vielfalt des Programms, das mit einer weiteren Schöpfung von Marais, der beschwingten „Sonnerie de Sainte-Geneviève du Mont de Paris“, zauberhaft endete.

Bernd Hoppe, 10.11.2021

Bilder von Bernd Uhlig