Berlin: „La damnation de Faust“

Zum Zweiten

am 04.06.2017

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Die Usurpation ihres „Nationalheiligen“ Goethe durch die französischen Komponisten des 19. Jahrhunderts wurde von den Deutschen schon damals wenig geschätzt. So stießen sowohl Berlioz wie später auch Gounod oder Massenet auf Ablehnung ihrer Faust- und Werther-Vertonungen. Und nun erdreistete sich also gar noch ein Angelsachse (Terry Gilliam) Berlioz’ LA DAMNATION D FAUST mit einer Erzählfolie zu überziehen, welche den Faust von der deutschen Romantik her über den ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, zum Faschismus des Nationalsozialismus durch die Geschichte der Kulturnation wandern lässt. Man hätte es kaum für möglich gehalten, dass SA und SS Uniformen auf der Opernbühne immer noch zu provozieren vermögen, doch die Entrüstung eines Teils des Publikums war am Ende deutlich zu vernehmen, eine Entrüstung, welche dem Inszenierungsteam rund um den prominenten Regisseur galt und von diesem leicht erstaunt zur Kenntnis genommen wurde. Terry Gilliam, einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden als Mitglied der satirischen Monty Python Gruppe und später als Regisseur so bekannter Filme wie BRAZIL mit Jonathan Pryce und Robert de Niro, BROTHERS GRIMM mit Matt Damon oder TWELVE MONKEYS mit Brad Pitt, präsentierte 2011 mit LA DAMNATION DE FAUST seine erste Operninszenierung.

Diese Koproduktion der English National Opera, des Teatro Massimo Palermo und De Vlaamse Opera Antwerpen wurde nun also auch an der Staatsoper Berlin im Schiller Theater präsentiert. Mit der erwähnten Folie, welche Gilliam über die Collage artige Vorlage von Berlioz’ so quer in der Musiktheaterlandschaft stehenden Komposition legte, gelang es ihm geschickt, die losen vier Teile miteinander zu verbinden, einen Rahmen zu schaffen, dem Publikum (auch wenn es mit FAUST nicht mehr gar so vertraut ist) einen optisch opulenten Leitfaden zu geben. Hildegard Bechtler hat dazu ein großartiges Bühnenbild geschaffen, angereichert mit den Video-Projektionen von Finn Ross, den Kostümen von Katrina Lindsay, der ausgeklügelten Lichtgestaltung von Peter Mumford und unterstützt durch die choreographische Mitarbeit von Leah Hausman. Auf dem Zwischenvorhang erblickt man Leonardo da Vincis vitruvianischen Menschen, dieses Idealbild des Mannes (Ariers?), der Quadratur des Kreises. Nach der Pause steht das Bild Kopf, vor dem letzten Akt überlagern sich die gerade und die kopfüber Position. Die Welt hat nicht die erhoffte Ordnung gefunden, ist aus den Fugen geraten.

Begonnen wird (nachdem der angeschwulte, affektierte Méphistophélès in einem gesprochenen Prolog sich kurz eingeführt hatte) tief in der deutschen Romantik, Faust sucht die Ruhe der Natur in einem Bühnenbild, das von Caspar David Friedrich stammen könnte. Kitschiger Sonnenuntergang, biedermeierlicher Maitanz folgen. Doch dann, mit dem Einsetzen des Rákóczi-Marsches, beginnt Méphistophélès quasi die Puppen tanzen zu lassen, ein Sesseltanz und ein Geschacher der damaligen Weltmächte beginnt, Allianzen werden geschmiedet und gebrochen, Europa wird wie eine riesige Torte aufgeteilt, eine groteske Politpersiflage zur gefährlich mitreißenden Marschmusik. Dann folgt der Giftgaskrieg, Nebelschwaden über dem Schlachtfeld, Leichen, Verwundete, Chaos. Faust trägt sich mit Suizidgedanken, wird jedoch aus Mitleid mit einem toten Kind zum Arzt. Gleich darauf wird er in die schrill-bunte Welt der 20er Jahre geworfen, ein Welt, in der Figuren des Malers Otto Dix auftauchen, etwa die berühmte Frau in Rot. Eine Welt aber auch, in der sich die Auseinandersetzungen zwischen Bolschewisten und Rechtsnationalen zuspitzen. Brander (hervorragend Jan Martiník) tritt in SA Uniform, Hitlerbärtchen und mit „Mein Kampf“ unter dem Arm auf. Viele Bolschewisten schwenken über zum Nationalsozialismus, ziehen sich die Hakenkreuz-Armbinde an, die resistenten werden erschossen. Méphistophélès lässt die Puppen tanzen, versetzt Faust in einen Traumzustand, man bekommt Olympia 1936 serviert, Körperertüchtigung der Massen à la Leni Riefenstahl, selbstverständlich dürfen Siegfried und Brünnhilde aus Wagners RING nicht fehlen, ja Faust wird gar vorgegaukelt, er liege mit der Walküre körperlich vereint auf ihrem Felsen.

Ein Gala-Empfang wie in Klaus Manns Mephisto-Roman folgt, mit Méphistophélès alias Gustav Gründgens als Gastgeber, der einen seltsamen Handel mit Eva Braun treibt. Es ist denn auch diese Eva Braun-Kopie, die Faust fesselt, seine Marguerite. Die jedoch geht erst mal zu Hitler, der auf einem Felsen auf dem Obersalzberg wie Caspar David Friedrichs Wanderer in des bergige Land schaut. Im dritten Akte erfahren wir, dass diese Eva Braun Verkleidung bloß Tarnung einer Jüdin war. Gretchen wohnt über einer koscheren Fleischerei, verkleidet sich zum Lied des „Königs von Thule“ nochmals in die blonde Eva Braun (aus Thule stammen ja der Legende nach auch die Arier, der Thule-Gesellschaft gehörte auch der junge Hitler an, daher kommt auch die Swastika). Doch die Uhr läuft dann plötzlich rückwärts, Marguerite, die Jüdin, tritt nochmals auf, es folgt die Reichskristallnacht und schließlich die Deportation Marguerites im Viehwagen in die Gaskammer. Méphistophélès inszeniert das alles als diabolischen Zauber, tritt auch mal wie Charleys Tante auf, weshalb hat sich mir nicht erschlossen, wie auch die eingeblendete Projektion einer Matrix, auf welcher sich die Ziffern rasend schnell ändern. Noch einmal versucht Faust die unbefleckte Natur zu evozieren, scheitert aber und beginnt mit der Bücherverbrennung. Endlich schließt er den Pakt mit dem Teufel (viel später als bei Goethe) und braust im Motorrad-Seitenwagen in die Hölle des alles vernichtenden Bombenkriegs.

Diese rasante Videofahrt ist mit grandioser Gespensterhaftigkeit inszeniert. Über der Hölle prangt der Schriftzug „Arbeit macht frei“. Faust hingegen wird auf dem Altar der Höllen-Nazis festgezurrt – seine Verdammnis. Die Ordnung, die er gesucht und bewundert hat, entpuppt sich als diabolischer Betrug, als Inferno. Marguerite endet auf einem Berg von Leichen (wie man sie von Vernichtungslagern wie Auschwitz kennt). Zu den Hosanna-Rufen und den himmlischen Gesängen wird dieser Leichenberg von oben in einem Licht angestrahlt, das in eine Parsifal-Inszenierung passen würde, bei der Enthüllung des Grals. Terry Gilliam hat also versucht, die vielen Brüche, die losen Enden, die langen sinfonischen Passagen mit einer parabelhaften Erzählung zu überlagern – eine Erzählweise, die mit gefährlicher Opulenz daherkommt, handwerklich herausragend gut gemacht ist. Und doch: Es bleibt ein leises Missbehagen, man frag sich, ob durch diese Herangehensweise erstens dem Faust-Stoff Gerechtigkeit widerfährt und ob zweitens die Schrecken des Nationalsozialismus nicht etwas verniedlicht werden.

Herausragend war an diesem Abend die Besetzung der drei Hauptpartien. Der Méphistophélès von Florian Boesch ist geradezu ein vokales Ereignis. Der vor allem als Lied- und Oratoriensänger und durch seine enge Zusammenarbeit mit Nikolaus Hanoncourt bekannte Bariton begeistert mit der reichhaltigen Ausdruckspalette seiner Stimme, der Durchschlagskraft, der subtilen, fein austarierten dynamischen Gestaltung dieses unheimlichen Strippenziehers und Verführers. Herausragend seine französische Diktion. Mit Charles Castronovo konnte einer der führenden Tenöre für das französische Repertoire als Faust verpflichtet werden. Castronovo verfügt über eine hervorragende Technik, kann die voix mixte in den heiklen Passagen, wo sich die Stimme in schwierige Höhengefilde bewegen muss, gekonnt und bruchlos einsetzen. Wunderschön zart und innig intoniert Magdalena Kožená die Arie Il était un roi de Thulé. Für ihre große Szene im vierten Akt D’amour l’ardente flamme war mir persönlich ihre Stimme etwas zu geradlinig, zu unterkühlt. Selbstverständlich war auch das hervorragend gesungen, ich mag das einfach mit etwas üppigerem, obertonreicherem Timbre. Eindringlich erklangen die Marguerite-Rufe im Finale durch die Stimme aus dem Himmel von Miho Kinoshita. Neben den drei Protagonisten (und dem erwähnten Brander) werden diese Faust-Szenen vor allem vom Orchester und vom Chor getragen. Der Staatsopernchor und der Kinderchor der Staatsoper meistern die schwierige und anspruchsvolle Aufgabe mit viel klanglichem Raffinement – eine fantastische Leistung (Einstudierung : Martin Wright). Berlioz’ farbenreiche, so wunderbar instrumentierte Musik strömt mit all ihrem lyrischen Parfüm und ihrer dramatischen, ja diabolischen Kraft aus dem Graben, wo Sir Simon Rattle als spiritus rector agiert. Die Staatskappelle Berlin kann an allen Pulten die ihre exquisiten Qualitäten voll ausspielen.

Kleine Anmerkung: Erstaunlich, dass weder der Dramaturg bei der Einführung noch die Zeittafel im Programmheft in ihrer geschichtlichen Auslistung von Berlioz‘ DAMNATION DE FAUST die kürzlich sehr erfolgreich an der Deutschen Oper Berlin gezeigte Inszenierung durch Christian Spuck erwähnten und den Eindruck zu erwecken suchten, die gestrige Premiere an der Staatsoper sei die erste szenische Realisierung in Berlin gewesen. Die drei großen Opernhäuser Berlins sind ja unter dem Dach der Opernstiftung Berlin miteinander irgenwie verbunden, und doch scheinen sie alle ihr eigenes Süppchen zu kochen.

Bilder (c) StOp Berlin / Matthias Baus

Kaspar Sannemann 7.6.2017

Bilder siehe weiter unten Erstbesprechung!