Berlin: „Médée“, Marc-Antoine Charpentier

Was haben Kleists Prinz Friedrich von Homburg und Charpentiers Médée gemeinsam? Beide stehen augenblicklich auf einer Berliner Bühne, warum auch nicht, aber in beiden, in der Schaubühne am oberen Kurfürstendamm wie in der Staatsoper Unter den Linden werden sie von Kampftruppen in moderner Ausrüstung umgeben, so dass der verblüffte, gerade einer Tagesschau mit verstörenden Bildern aus Ukraine und Gaza-Streifen entflohene Zuschauer meinen könnte, er wohne einer Verlegung der beliebten Nachrichtensendung in die ebenso beliebten Kulturstätten bei.

© Ruth Walz

Dem ist natürlich nicht so, es handelt sich wohl um einen reinen Zufall, denn in der Staatsoper finden, wie seit einer Reihe von Jahren schöne Tradition, im Monat November die Barock-Wochen statt mit einer Viel-, um nicht zu sagen Unzahl von Aufführungen, Konzerten und Liederabenden mit barocker Musik im allerweitesten Umkreis, denn auch der frühe Mozart gehört dazu. Auch für das junge Publikum ist gesorgt mit Theseus‘ Reise in die Unterwelt nach Rameaus Hippolyte et Aricie. Es wurden und werden renommierte, spezialisierte Orchester eingeladen, so dass die Staatskapelle zu einer Tournee aufbrechen kann, in diesem Jahr mit einem Brahms-Programm nach Kanada und in die USA, allerdings nicht wie üblich mit Daniel Barenboim, der wegen seines labilen Gesundheitszustandes kurzfristig absagen musste, sondern mit drei Ersatzdirigenten. Anstelle der Staatskapelle sitzen in diesem Jahr so bekannte Klangkörper wie Les Musiciens du Louvre, die Akademie für Alte Musik Berlin und das Freiburger Barockorchester im Orchestergraben der Staatsoper.

Gleich drei Opern mit dem Titel Medea bzw. Médée stehen auf dem Spielplan, alle drei widmen sich dem mittleren Lebensabschnitt der mit Zauberkräften begabten Prinzessin aus Kolchis, die aus Rache für die Untreue ihres Gatten und die Verbannung durch dessen zukünftigen Schwiegervater diesen, dessen Tochter und die eigenen beiden Kinder tötete, um dann mit einem Drachengefährt davon zu fliegen. Vorausgesetzt wird die Kenntnis der Vorgeschichte von der Entführung des Goldenen Vlieses, das im Besitz von Medeas Vater war, ihre Liebe zu Jason, der sie den eigenen Bruder opferte. Weniger Interesse erregte stets die Fortsetzung, ihre Flucht nach Athen und ihr dortiges Wirken.

Drei Medeen also stehen auf dem Spielplan der Staatsoper: eine konzertante von Friedrich Benda, die bereits seit einiger Zeit auf dem Spielplan befindliche von Cherubini und als Neuinszenierung der Médée von Charpentier aus den Neunzigern des 17. Jahrhunderts, am Hof von Versailles uraufgeführt auf ein Libretto von Thomas Corneille, des jüngeren Bruders des französischen Klassikers.

© Ruth Walz

Wie damals unverzichtbar für Aufführungen am Hof von Versailles, beginnt das Werk mit einer Lobpreisung des Sonnenkönigs, sind zwischen die einzelnen Akte Divertissements eingestreut. Verständlich, dass da ein wenig, aber keinesfalls werkentstellend gekürzt wurde. Zudem wurden einige Nebenfiguren auf jeweils einen Sänger vereinigt. In einem Interview in einer Berliner Tageszeitung hatte Regisseur Peter Sellars verkündet: „Meine Inszenierung wird… in der Ästhetik sehr ruhig und fokussiert sein. Für mich ist diese Oper mehr ein heilendes Ritual.“ Ob eine ab und zu über die Bühne fahrende Raketenabschussrampe, Maschinenpistolen oder Guantánamo-Anzüge, ein in den deutschen Text eingeschmuggeltes Wort wie „Abschiebung“ und Gendergerechtigkeit beim Nachwuchs diesen Anspruch erfüllen, mag dahingestellt sein, ansonsten aber begnügt sich die Produktion tatsächlich mit einer Einheitsbühne von Frank Gehry, einer Art Unterwasserwelt mit beweglichen Teilen und wechselnden Farben, mit zwei Stahlkäfigen, in denen meistens Medea, aber nicht nur sie einsitzt, während die Kostüme von Camille Assaf zeitlos sind. Auf alles, was den Zuschauer der Barockzeit begeisterte, nämlich Theaterdonner und Theaterzauber, wird verzichtet, besonders am völlig unspektakulären Feuertod der Créuse sichtbar.

Wenn man das alles nicht vermisst, dann liegt das in allererster Linie an der überragenden Leistung von Magdalena Kožená in der Titelpartie, deren starke Persönlichkeit die Bühne beherrscht, deren farbig-sanftes Flehen eigentlich unwiderstehlich sein sollte, deren seltene Wutausbrüche immer fokussiert bleiben und von höchster Stimmkontrolle zeugen. Und es lag wohl auch in der Absicht des Regisseurs, dass sie fast sympathisch erscheint, ihr Handeln nachvollziehbar in einer von Männern dominierten Welt. Wenn sie herausragend war, dann die anderen Säger doch vorzüglich, so der präzise Haute-Contre Reinoud Van Mechelen als Jason, der Autorität ausstrahlende Bass von Luca Tittoto als Créon, und nur Gyula Orendt, dem unseligen Oronte, merkte man an, dass er kein Spezialist für das Barockfach ist. Einen mädchenhaft hellen, reinen Sopran setzte Carolyn Sampson für die Créusa ein, Jehanne Amzal sang mit wärmerem Ton die Cléone, dazu L‘Amour. In ebenfalls zwei Partien bewährte sich Markéta Cukrová als Nérine und Bellone, und aus dem Studio konnten Gonzalo Quinchahual als Arcas und Jalousie und Dionysios Avgerinos als Vengeance erfolgreich Bühnenerfahrung sammeln.

© Ruth Walz

Balsamisches steuerte der Chor, einstudiert von Dani Juris, bei. Das Freiburger Barockorchester unter Sir Simon Rattle verbreitete dunklen wie hellen Glanz, ließ die reinen Orchester- zu wahren Glücksmomenten werden und breitete unter den Sängerstimmen einen schimmernden Teppich aus.

Wer die Médée in derselben Besetzung lieber konzertant erleben möchte, kann das am 21. November in der Hamburger Elbphilharmonie erreichen, danach kehrt das Ensemble an die Lindenoper zurück.

Ingrid Wanja, 19. November 2023


Médée
Marc-Antoine Charpentier

Staatsoper Berlin

Besuchte Premiere am 19. November 2023

Inszenierung: Peter Sellars
Musikalische Leitung: Sir Simon Rattle
Freiburger Barockorchester