Braunschweig: „Nabucco“

Zum Zweiten

Besuchte Vorstellung am 3. September 2019

(Premiere am 17. August 2019)

Open-Air-Event

Nach „Carmen“ im Vorjahr gab es beim schon traditionellen Open-Air-Event wieder große Oper im einmaligen Ambiente des Braunschweiger Burgplatzes vor Dom und Burg Heinrichs des Löwen. Zur Handlung von „Nabucco“ muss man in der Geschichte allerdings sehr viel weiter zurückgehen als nur ins hohe Mittelalter, nämlich ins vorchristliche Jahrtausend zu Nebukadnezar II. (=Nabucco), der damals Jerusalem eroberte und zerstörte. Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Hebräern und Babyloniern stehen in der Oper weniger im Vordergrund als die persönlichen Beziehungen der handelnden Personen zueinander. Regisseur Klaus Christian Schreiber verzichtete bewusst darauf, aktuelle religionsbedingte Konflikte in die Geschichte um den Babylonier-Herrscher und die gefangenen Hebräer mit ihrem geistlichen Anführer Zaccaria einzubeziehen. Vielmehr ließ er von der Ausstatterin Corinna Gassauer eine Wüstenlandschaft mit großen Quadern bauen, die teilweise hebräische Schriftzeichen enthielten. Einziger moderner Bezug war die archäologische Baugrube an der einen Seite des Auftrittsrunds. Hier war zur Ouvertüre eine Archäologin am Werk, die ihren Mitarbeitern in moderner Tropenkleidung – alle später Darsteller in der Oper – gefundene Scherben zeigte. Ihre Mitarbeiter zogen sich zurück, und sie, nun Abigaille, ließ sich ein edles Gewand anlegen. Im Verlauf der Handlung erkannte man, dass die anfangs gefundenen Scherben Teile einer kleinen rechteckigen Tontafel waren, die Abigaille zerstörte – offenbar der Beleg für ihre Sklaven-Herkunft. Weitere nachvollziehbare Hinweise auf die heutige Zeit gab es im Verlauf der Oper nicht. Dass zwei Völker miteinander im Streit lagen, wurde an den Kostümen der Choristen gezeigt, die bekanntlich mal die Babylonier, mal die Hebräer darzustellen haben: Ihre Kleidung und auch die geschminkten Gesichter waren zweigeteilt, auf der einen Seite in blau als Babylonier, auf der anderen beige oder hellgrau für die Hebräer; auch übergroße grüne Gewänder gab es. Irritierender Weise korrespondierten die unterschiedlichen Farben nicht mit den historisierenden Kostümen der Hauptpersonen. Dies alles war ebenso wenig überzeugend wie die Choreografie der Chormassen, deren Bewegungen wegen der Kostümierung oft zu unruhig wirkten. Zeitweise waren sie direkt albern, wenn z.B. Abigaille zur Ouvertüre die Choristen „dirigierte“. Sehr viel einleuchtender war die Gestaltung der unterschiedlichen Beziehungen der Protagonisten zueinander: Hier gelang es Schreiber und den Sängerdarstellern glänzend, die jeweiligen Konflikte nachvollziehbar herauszuarbeiten. Dass das alles verständlich war, lag auch daran, dass es erstmals auf dem Burgplatz deutsche Obertitel gab. Länger in Erinnerung wird das besonders beeindruckende Bild in Erinnerung bleiben, als der verstörte Nabucco innerhalb eines auf den Sand projizierten Davidssterns hockte. Dagegen wirkte es geradezu lächerlich, als Ismaele die kleine Götzenfigur (Baal), die übrigens im 1. Akt in Jerusalem fehl am Platze war, vom Sockel zog. Dass zusätzlich dreimal nach einem deutschen (!) Eingangssatz die Choristen vielsprachig durcheinander redete, was wohl an die Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel erinnern sollte, hatte mit „Nabucco“ ja nun gar nichts zu tun und wirkte deshalb eher verstörend.

Alles gegeneinander abgewogen blieb jedoch ein insgesamt positiver Eindruck zurück, was natürlich auch an der in diesem Frühwerk Verdis streckenweise noch reichlich plakativen, aber doch eindringlichen Musik lag. Und die war bei dem jungen Braunschweiger Dirigenten Christopher Lichtenstein, inzwischen 1.Kapellmeister des Hauses, in guten Händen. Er sorgte am Pult des an diesem Abend ausgezeichneten Staatsorchesters mit stets vorwärtsdrängenden Tempi für den nötigen Schwung. Dass Chor und Solisten nicht immer mithielten, so dass u.a. das Finale des 1.Aktes arg ins Wackeln geriet, wird man nicht nur ihm anlasten können.

In der vorletzten Vorstellung, die glücklicherweise von Regen verschont blieb, gab es solide, nicht durchweg überzeugende Sängerleistungen: In der Titelpartie des Nabucco erlebte man Juan Orozco, der hoch zu Ross in das Spielrund einritt und sich gestalterisch voll einsetzte. Seinen mächtigen Bariton konnte der mexikanische Sänger, derzeit im Ensemble des Freiburger Theaters, jedoch nicht ganz im Zaum halten. Dazu wurde er teilweise zu unruhig geführt; außerdem konnte er die Unart, Töne von unten anzuschleifen, nicht immer unterdrücken. Nabuccos eigentliche Gegenspielerin ist Abigaille, die die serbische Sängerin Dragana Radaković mit hoheitsvollem Gestus gab. Sie bewältigte die mit sängerischen Höchstschwierigkeiten gespickte Partie weitgehend angemessen. Sie beherrschte den großen Tonumfang und traf die gefürchteten Intervalle. Getrübt wurde der sonst gute Eindruck durch zu starkes, unschönes Tremolo in den sanfteren, lyrischen Teilen der Partie; auch die Spitzentöne gerieten ab und zu ein wenig zu grell. Der weitere Gegenspieler Nabuccos ist der geistliche Führer der Hebräer Zaccaria; diese dankbare Rolle war dem Mitglied des Braunschweiger Ensembles Jisang Ryu anvertraut. Er sang das berühmte Gebet mit schönem, runden Ton, führte aber seinen raumgreifenden Bass in den dramatischen Teilen zu unruhig, indem er manches Mal zu sehr forcierte.

Sängerische Lichtblicke waren der serbische Tenor Nenad Čiča als Ismaele und Ivi Karnezi als Nabuccos Tochter Fenena. Mit ihrem leuchtenden Sopran überstrahlte sie einige Ensembles, und das Gebet kurz vor Fenenas geplanter Hinrichtung gelang ihr ausgesprochen anrührend. Mit tenoraler Strahlkraft und geschmeidigem Singen imponierte Nenad Cica, seit einem Jahr im Ensemble des Theaters Heidelberg. Neu im Braunschweiger Ensemble ist Rainer Mesecke, der mit vollem Bass als Oberpriester des Baal gefiel. Schönstimmig fiel der polnische Tenor Michał Prószyński (Abdallo) auf; klarstimmig gab Annegret Glaser Zaccarias Schwester Anna.

„Nabucco” ist eine typische Choroper, in der Chor und Extrachor des Staatstheaters in der bewährten Einstudierung von Georg Menskes und Johanna Motter einen insgesamt guten, klanglich ausgewogenen Eindruck hinterließen. Der berühmte „Gefangenenchor“ in angenehm zurückhaltender Interpretation war einer der unbestrittenen Höhepunkte des Abends.

Starker, lang anhaltender Beifall belohnte alle Beteiligten.

Fotos: © Bettina Stoess

Gerhard Eckels 4. September 2019